Der Brief

Dreimal hört Madlaine die Standuhr schlagen. Noch bevor sie sich der Illusion hingeben kann, ihren diesmal so

romantischen Traum fortzusetzen, springt das Radio an und der Moderator, dessen gespielte Witzigkeit ihr auf die

Nerven geht und von ihr in die Kategorie niveaumindernd eingestuft wird, lässt gerade wieder sein Selbstbelachen über

eine komisch wirken sollende Bemerkung los. Sie hat demnach vier warm klingende Schläge des alten Erbstücks

verpasst. Das ist der einzige Moment, in dem sie es bereut, das Schmuckstück entgegen Peters Vorstellungen in ihr

ansonsten sehr modernes Wohnensemble aufgenommen zu haben. Nicht nur, dass durch ihren Anblick die liebevollen

Kindheitserinnerung immer wieder erweckt werden, nein auch ihr äußere Schlichtheit, das vor Unbestechlichkeit

strotzende Uhrwerk umrahmt von ebenmäßigen, mahagonifarben Holzschnitzereien, geben ihr Tag für Tag ein Gefühl

der Harmonie, wie es die nüchternen weißen mit vielen Glaselementen versehenen restlichen Möbel und

Sitzgelegenheiten nicht hervorbringen können. Aber sie hat sich damals beim Einzug in dieses Apartment, mit der

weitläufigen Terrasse und einem phantastischen Panoramablick über die Stadt, gern von Peters Architektengeschmack

überzeugen lassen.

Sie tastet neben sich, schiebt den Po lustvoll auf die andere Bettseite, da fällt ihr ein, dass Peter ja wieder mal

außerhalb bei seinem neuen Projekt ist. Zur Zeit geht es um eine große Sache und er ist wie besessen, endlich einmal

seiner Phantasie und der Begabung, die ihm von seinen Freunden und Kollegen bescheinigt wird, freien Lauf zu lassen.

So wie er es Madlaine verständlich gemacht hat, muss der finanzielle Rahmen für den Bahnhofsneubau schier

unerschöpflich sein. Und was noch wichtiger für ihn ist, dass es im Stadtrat ein Übergewicht für seine Pläne des

Modernen gibt. Was hat er in den fast fünfzehn Jahren seit er im Büro Hendel & Söhne arbeitet nicht schon alles für

Entwürfe, die über den Zeitgeist hinausgehen sollen, vorgelegt. Immer wieder war es weniger eine Entscheidung des

Budget, als viel mehr der verknöcherten Entscheidungskraft von Vorständen, Aufsichtsräten oder Kommunalpolitikern

zu verdanken, dass er niedergeschmettert nach Hause kam und Madlaine versuchte durch eine neue kulinarische

Abendattraktion und die entsprechende Tischdekoration eine Abwechslung für ihn und Hinwendung zu ihr, zu erreichen.

Jetzt bemerkt und vermisst Madlaine den aromatischen Kaffeeduft, der ansonsten bereits liebevoll von Peter vorbereitet

ist und bis in ihr Schlafgemach weht, sehr deutlich. Soll sie nicht doch noch ein bisschen zum Traum zurückkehren. So

bald sie aufgestanden ist, sind die wenigen Traumfetzen so wie so immer gleich wie weg geblasen. Wie viel schöner ist

es, wenn Peter sie  mit einem gemeinsamen Blick in den ovalen Spiegel, der fast die gesamte linke Wandseite des

peinlich, nüchtern eingerichteten Bades vereinnahmt, bei der  Morgentoilette begleitet. Dabei kann er so präzise und

wundervoll die Pointen setzend eine kleine Traumgeschichte fabrizieren. Natürlich müssen sie nach solchen seltenen

Gelegenheiten, das übliche harmonische Frühstück abkürzen und aus dem Haus hetzen.

Aber heute war es anders. Madlaine konnte sich noch recht gut an die Traumvorkommnisse erinnern. Nach wie vor ist

sie tief unter ihrer gemeinsamen Decke, die ansonsten auch noch für Peter ausreichend ist und immer die gegenseitige

Berührung eines Körperteils garantiert, verkrochen und rekapituliert die Traumszene, die in den Bergen spielt. Sie sieht

sich selbst, wie sie in einem luftigen Sommerkleid quer über eine Bergwiese läuft auf der ein Meer an gelben Blumen so

hoch gewachsen ist, dass die Blüten sie direkt in der Nase kitzeln. Sie läuft lachend immer weiter und schaut sich dabei

um, als folgte ihr jemand oder als sollte sie in eine Kamera schauen. Plötzlich springt geradewegs ein Bergzicklein mit

winzig kleinen gedrehten Hörnern auf sie zu und meckert mit einem süßen, kläglichen Stimmchen, was sie völlig erstaunt

auch verstehen kann, komm mit, ich zeige dir den Weg zum Licht. Wieso will es mir das Licht zeigen, denkt Madlaine, es

strahlt doch überall die Sonne und man kann sich nicht vorstellen, dass es jemals anders sein könnte. Glaub mir, glaub

mir meckert das Zicklein erneut und schubst sie mit ihren Hörnern weiter. So geht es immer höher, die Blumenwiese liegt

längs hinter ihnen und es beginnt eine kärglichere Vegetation. Sie stoßen auf kleine Felsbrocken und Madlaine hat

unbegreiflicher Weise ihre Hausschuhe an, die unter jedem Steinchen, die immer zahlreicher auf ihrem Weg werden,

nachgeben und ein leichtes Drücken verursachen. Dem Zicklein mit dem weißen Halsausschnitt im ansonsten braunen

Fell, scheint das nichts auszumachen. Im Gegenteil reckt es sein Bärtchen, das so gestriegelt ist, als käme es gerade

vom Frisör und hüpft immer leichter jede steinige Hürde nehmend bergauf. Die Anstrengung scheint langsam ein Ende

zu nehmen, denn gnädig dreht Zicklein den kräftigen, sehnigen Hals zurück in Richtung der keuchenden Madlaine und

munter sie auf, dass es gleich geschafft sei. Sie sind an einem besonders auffälligen hohen und spitzen Stein

angekommen und das Zicklein beginnt sich durch eine von Madlaine vorher unbemerkte Spalte zu schieben. Komm nur

hört sie die in einen Hall übergehende Zickleinstimme. Sie ist zu erschöpft um nachzudenken und folgt dem niedlichen

Tier. Es ist stockdunkel und sie muss sich beeilen, denn sie kann sich nur noch an dem hell leuchtenden

Stummelschwanz des Zickleins orientieren. Es scheint kein Ende zu nehmen und noch länger als das Bergstück,

welches sie gerade bewältigt haben. Sie hat schon keine Hoffnung mehr, als sie plötzlich wie vom Blitz getroffen in einer

von allen Seiten blendenden Lichtflut steht. Es ist ihr unmöglich Genaueres zu erkennen. Sie weiß nicht, ob das Licht von

einer Unzahl an edelsten Steinen oder sich gegenseitig reflektierender Spiegel  erzeugt wird. Völlig orientierungslos ruft

sie ein ums andere mal ergebnislos nach dem Zicklein, den sie spürt nur durch das Tier, welches sie zu dieser

Verschwendung an Licht geführt hat, kann sie auch wieder dem Überfluss ent-rinnen. Wie in allen Träumen muss

Madlaine auch heute mit dem ungelösten Traumkonflikt weiter leben. Dabei hat sie so viel Zeit eingebüßt, dass die Uhr

gleich zur halben Stunde unweigerlich ihren Schlag abruft. An Schminke und Frühstück ist nicht mehr zu denken. Nur

gut, dass sie sich schon am Abend für ihre Garderobe entschieden hat. Was allerdings ohne Peters gesunden

Geschmack viel nervender war. Denn heute wird in der Firma ein Hoffnung gebender Kunde erwartet und sie soll die

Präsentation der neuen Produktreihe vornehmen. Da soll man ja einerseits die Wirkung als Frau mitbringen, aber auf

keinen Fall den kleinsten Tatsch an Aufreizung hervor kucken lassen. Nach ihrem Studium war sie noch so naiv zu

glauben, dass allein die Leistung für einen selbst sprechen würde. Die Einsicht, dass sich die Gewohnheiten der

Menschheitsgeschichte in der Rolle der verschiedenen Geschlechter nicht tatsächlich und grundsätzlich geändert haben,

wurde ihr durch die netten Kolleginnen und unneutralen Kollegenblicke recht schnell bewusst. Sie hatte sich diesmal für

ein altes Stück entschieden, dass sie mit Peter in Urlaubsstimmung in einer der überteuerten Boutiquen von Nizza nach

heftiger Überredungskunst von ihm erstanden oder aus späterer Sicht besser erspart hatten. Inzwischen ist sie soweit,

dass sie ihr widerspenstigen, roten Locken zu einer Hochfrisur gebändigt hat. Schnell packt sie ihre Sachen in die

passende Handtasche um, die sie im Nachgang des teueren Kleidungsstückes ganz überraschend, aber mit um so

größerer weiblicher Freude unter dem Weinachtbaum auspacken durfte. Frühstück fällt bei ihr ohne die Gemütlichkeit

spendende Anwesenheit von Peter so wie so aus. Gerda, ihre Bürokollegin, muss schon nicht mehr nachfragen, ob sie

den Abend wieder mal solo verbracht hat, denn an diesen Tagen bittet Madlaine sie von allein, sie bei ihrem Bäckergang

nicht zu vergessen.

Was Gerda mitbringt bedarf keiner Rückfrage und sie findet es schnöde, dass Madlaine immer nur den Wunsch nach

Windbeuteln hat. Na gut, kein anderer Bäcker hat sie im Angebot und sie sollen wohl auch so köstlich munden, wie die

Originalen aus der Kinderzeit, aber ärgerlich ist es schon, dass die gertenschlanke Madlaine mit der Nicole Kidmann

Figur das Kalorienbömchen ohne Auswirkungen verdrücken kann, wo Gerda selbst nur scheu in jeden

Ganzkörperspiegel schaut.

Mit dem Gedanken, ob sie an alles gedacht hat und ihr das Äußere auch noch auf die Schnelle gelungen ist, stürmt

Madlaine aus dem Haus und beeilt sich, sie hat nur noch drei Minute Zeit bis zur Abfahrt, zur Haltestelle zu kommen.

Nun muss sie auch noch mit der Straßenbahn den langen Weg kutschieren und bei jedem Halt wird sie ungeduldig

denken, kann sie nicht endlich weiter fahren bzw. warum kann dieser junge Kerl nicht schneller einsteigen ohne vorher

seine Hampeleien abzuziehen.

Leider musste sie Peter wieder mal Recht geben, dass der Kauf des Cabrio Käfer ein Schnellschuss von ihr war. Nun

steht die Kiste nach drei Wochen glücklichen Fahrens in der Werkstatt und die Experten grübeln, warum der

Startvorgang immer wieder aussetzt. Madlaine wollte schon immer dieses Fahrzeug und als sie neulich nach der

Touristikmesse, noch ganz vertieft in die vielen Möglichkeiten, die die heil scheinende Welt dem Vergnügungssüchtigen

bietet, am chaotisch aufgestellten Gebrauchtwagenhandel vorbei schlenderten, erspähte Madlaine den Farbfleck. Es war

ein gelb grün gesprenkeltes Käfercabriolet, wie es seit ihrer Studienzeit in Madlains Warteliste der liebsten Wünsche

herumgeisterte. Trotz der finanziellen Bedenken, die Peter aufwarf, konnte er dem Charme, den Madlaine oft eimerweise

ausschüttete, nicht widerstehen. Sie bettelte, brachte die unüberzeugensten Argumente vor, versprach zu sparen und

keinen unnötigen Eisbecher mehr zu verschlingen. Nun hat sie den Salat nicht auf ihn gehört zu haben. Den einzigen

Vorteil in der Bahnfahrt sieht sie darin, die versäumten Gelegenheiten nachzuholen und sich in eine Lektüre zu vertiefen.

Außerdem gelingt es ihr dann besser über die Trödligkeit der Bahn hinweg zusehen. Heute ist sie jedoch zu

unkonzentriert und kann die ergreifende Geschichte von Nadine Gordimer nicht weiter verfolgen. Dafür schaut sie sich

abwesend in der Bahn um, denkt an die Einführungsworte ihrer Präsentation und bleibt mit dem herum schweifenden

Blick an einer einsamen Tasche auf dem Sitz vor ihr hängen. Ihre Betrachtung wird genauer. Es ist eine altmodische

schwarze Tasche mit einer zerkratzten Silberschnalle und abgeschabten, überlangen Henkeln. Unschlüssig überdenkt

sie, nachdem inzwischen schon weitere drei Stationen passiert wurden, warum diese Tasche dort so stumm ausharrt

und ob sie eine bewegte Vergangenheit hinter sich hat. Ihre Neugier dies in Erfahrung zu bringen steigert sich soweit,

dass sie entschlossen den Platz wechselt, sich daneben setzt und beschließt, die Tasche mit zu nehmen, wenn bis zu

ihrem Halt nichts anderes passieren sollte. Was sollte auch während der ununterbrochenen Fahrt geschehen, also

musste Madlaine die Tasche doch an sich ziehen. Halb verdeckt unter der Eigenen befördert sie die Beute unentdeckt

bis in ihr Büro. Bis zum Erscheinen der mit Vorschußlorbeeren bedachten Kunden hat sie exakt noch fünf Stunden seit.

Gerda genießt heute ihren Wellness Tag, worauf sie am folgenden immer besonders optimistisch ihr Stimmungshoch

heraus flötet, so dass Madlaine ihre Konzentration ganz ungestört auf das Öffnen der Tasche richten kann.

Auf den ersten Blick erscheint ihr der Inhalt sehr unübersichtlich, da alles in einem einzigen Fach Platz finden muss und

keine Möglichkeit der Verteilung auf Innentaschen besteht. Madlaine nimmt eine Haarbürste, die ebenso benutzt wie die

Tasche selbst aussieht, heraus, um den übrigen Inhalt besser erkennen zu können. An der Bürste sind wenige graue

Haare verfitzt, was darauf schließen lässt, dass die Besitzerin schon den Ursprung der Tasche erlebt hat. Etwas

enttäuscht räumt Madlaine Stück für Stück aus und kann nicht das Abenteuerliche entdecken, was ihre Phantasie ihr in

der Straßenbahn vorgegaukelt hat.

Sie ist fast am Boden angekommen, als ihre Hände in etwas Knitteriges greifen. Ihre Hand mit den Ringen, die ihr die

Eltern, Norbert und sie selbst sich ausgesucht haben, fördert einen fleckigen Briefumschlag zu Tage. Sie legt ihn

bedächtig auf die Glasplatte ihres Arbeitstisches und es beschleicht sie eine leichte Ehrfurcht vor dem

geschichtsträchtigen Äußeren des Briefes. Fast wie eine Museumsmitarbeitern dreht sie ihn mal nach vorn und wieder

zurück und versucht die Details der Marke, des Stempels und der Anschrift zu entziffern. Es ist eine alte, verschnörkelte

Handschrift, die Tinte ist inzwischen aber so sehr verblasst, dass eine Erkennung des Namens, der Straße und des

Ortes unmöglich ist.

Auf der Marke sieht sie ein männliches, schnauzbärtiges Portrait. Aber von Bismarck bis zu sonst wem könnten die

verschiedensten Persönlichkeiten der Geschichte vermutbar sein. Einzig am Stempel doktert Madlaine erfolgreich herum.

Sie erkennt den Anfang eines Wortes mit König...... und das Ende einer Zahl mit 44. Die Verbindungslinie dieser beiden

lesbaren Daten aus der Vergangenheit, erinnern sie an eine ergreifende Lektüre über eine Liebe während des zweiten

Weltkrieges in den Kurischen Nehrungen. Die Beschreibung dieser Ostseelandschaft in ihrer einsamen Schönheit und

dem verschwiegenen, aber herzlichen Menschenschlag, lässt ihre Entscheidung auf den Ort Königsberg im Jahre 1944

fallen. Da der Brief unverschlossen ist, die sauber geschnitten Kanten lassen darauf schließen, dass er nicht hastig

aufgerissen wurde, sondern mit den früher weit verbreiteten kultivierten Brieföffnern aufgeschlitzt wurde, ist es doch nicht

ungehörig, wenn sie sich durch den Inhalt davon überzeugt, ob ihre Vermutung zu trifft. Sie entnimmt den Briefbogen,

der im Gegensatz zum Umschlag unbefleckt geblieben ist, aber der Vergilbung nicht stand halten konnte. Dies schmälert

aber nicht die Lesbarkeit des Geschriebenen, einzig die schräge, langgezogene Handschrift bedarf der Gewöhnung.

Diesmal beherrscht sich Madlaine vor der Überhast, gießt in ihre Tasse, die noch aus den Kindertagen stammt, den jetzt

heißen Kaffee ein und stellt sich, während sie sich bequem zurücklehnt, vor, wie die alte Besitzerin des Briefes sich im

Schaukelstuhl, die runde Nickelbrille bis an die Grenze des Nasenumfangs vorgeschoben, das Geschriebene zum

zigsten mal durchliest.

Mein liebster Engel,

ja ich nenne dich Engel, weil du genau so weit entfernt von mir bist, das es egal ist, ob ich

in den Himmel geschossen werde und dich dort wieder finde oder hier im Graben aus-

harren muss, nicht einen Zug besteigen zu dürfen und deinen Anblick auf dem Bahnsteig

zu erhoffen. Es sind die Träume die mich beherrschen, wenn nicht gerade geschossen,

geschrieen oder der Schlaf gesucht wird, der hier nicht tatsächlich möglich ist und die mich in Gedanken an dich fesseln.

Ich habe extra meine Hände in einer Pfütze gereinigt, so gut dies geht und zum Abwischen

den Verband eines verstorbenen Kameraden benutzt, damit du diesen Brief ohne die

schrecklichen Dreck- und Blutspritzer lesen kannst. Uns ist schon nicht mehr bewusst,

den wievielten Tag und Nacht wir hier kauern, hocken und sonst wie unsere geschundenen

Knochen in den Graben hineinpressen, dass nur ja nicht unsere Köpfe darüber hinaus

ragen. Diese Helme sind vielleicht als Kinderspielzeug oder wenn noch kein Loch hinein

geschossen wurde, als Suppenschüssel für die Wasserbrühe mit ein paar darin zu suchenden

Möhrenstückchen, gut, aber nicht als Schutz vor dem unaufhörlichen Kugelhagel der Russen.

Mein Liebes, auch wenn es mich drängt diese gottverdammte Unsinnigkeit des Tötens,

los zu werden, möchte ich dich doch nicht beunruhigen und die Dinge von dir fern halten.

Natürlich wissen wir durch zurückgekommene Kameraden aus dem Urlaub, dass ihr

in zerstörten Städten lebt und die Angst über ganz Deutschland gekrochen ist.

Um so mehr trösten mich die Gedanken und Erinnerungen an unsere Liebe, die ich so

stark empfinde, dass ich oft nicht merke, wenn ein Kamerad neben mir vor Schmerzen stöhnt.

Wie habe ich das Glück genossen, als unsere gesunden, hungrigen Körper, Leib an Leib,

sich abtastend und vordringend, ineinander geflossen sind. Dein schneeweißer Busen

lässt mich noch umgeben von all diesem Grauen erbeben. Deine Küsse schmecke ich noch,

wenn die feindlichen Geschosse um uns pfeifen und deine Augen fühle ich auf mir ruhen,

wenn die Schwäche und Entmutigung mich befällt. Die Erinnerung ist die Musik, die mir

so fehlt. Zärtlich wie Tasten des Klaviers schlagen, möchte ich deine Haare um meinen Hals

schlingen und die Hände nicht von dir lassen, kannst du mich nicht auch fassen. Nur diesen

Augenblick soll uns das Kriegsgewimmel gönnen, denn meine Sehnsucht treibt zu dir und

du zu mir, wie ohnmächtig dieser Glaube hier erstickt, wir alle sind in ein furchtbares

Schicksal verstrickt.

Verzeih, dass ich dich nicht von meinem Kummer fern gehalten habe. Ich verspreche dir,

dass ich auf mich acht gebe. Ich will doch zu dir zurück. Ich liebe dich.

Dein Liebster

 

Madlaine hatte den letzten Satz schon mit Tränen in den Augen beendet und sitzt so eine unbestimmte Weile still.

Sie begreift wie unwesentlich die Dinge ihres Alltages sind, gegen den Kummer, der sich hinter dieser Zeit und den

unzähligen Einzelschicksalen verbirgt. Noch ganz abwesend nimmt sie wahr, dass die Gäste eingetroffen sind und es

Zeit wird, sich auf den Vortrag vorzubereiten.

Am Abend zu Hause angekommen ist sie immer noch sehr bewegt von diesem so unscheinbar scheinenden Brief. Ganz

mechanisch verrichtet sie die gewöhnlichen Abläufe. Das Telefon klingelt. Sie hat völlig vergessen, dass sie Peter im

Hotel bis acht zurückrufen soll. Er ist tatsächlich am Apparat, will von ihr wissen wie die Präsentation verlaufen ist und

schnattert über seine Tagesereignisse. Ganz unvermittelt unterbricht Madlaine ihn und fragt, liebst du mich. Natürlich

liebe ich dich Schatz. Er kommt gar nicht dazu sich zu wundern, wieso nach ihrer langen Ehe auf einmal solche

Emotionen wach werden, denn sie fragt weiter, für immer. Ja antwortet Peter und Madlaine entgegnet mit weicher

Stimme, ich dich auch.

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