Der Tag an dem sie ging

Jetzt wo es soweit ist, spürt sie nicht mehr den frohen Mut, der ihr die Entscheidung bis hier her so erleichtert hat.

Das Absterben der letzten Jahre wird Sylvia erst in diesem Moment mit der Hand auf der Wohnungsklinke wirklich

bewusst. Nicht das es ihr ein Zurück gebietet, dazu war das wochenlange Ringen zu beschwerlich und der Sieg für ihr

eigenes Ich zu hart erkämpft. Aber wieso sollte ihr Blick in diesen letzten Sekunden nicht leer sein und der Körper, das

Herz ausgeschlossen, den Verlust des Gewohnten mit einer trägen Verkrampfung quittieren?

So hatte sie es sich nicht vorgestellt, beladen mit Schwermut die knacksenden Treppen des alten Mietshauses

hinunterzusteigen, die polierten Messingschilder der anderen Hausbewohner in den unteren beiden Etagen mechanisch

mit ihren Augen abzutasten und nicht zu wissen, warum sie nicht optimistisch und befreit auf die großen quadratischen

Platten des lärmenden Boulevards hinaus tritt.

Ihr Schritt hat nichts übriggelassen von ihrer üblichen Beschwingtheit. Sie hebt kaum die Füße und der Rollkoffer takert

in dem gleichen ermüdeten Rhythmus geradewegs auf den figurenüberladenen Brunnen vor der frisch getünchten

Konzerthalle zu. Im Schatten der mächtigen Kastanien, aus der die Wurzeln versuchen wie Tentakeln den benachbarten

Brunnen zu umschließen, lässt Sylvia sich auf der einzigen Bank, die sonst nur ein Privileg der älteren

Boulevardbummler ist, nieder.

Dieses Verharren ist nicht von ihr gewollt und war nicht in ihrem Plan möglichst rasch den Bahnhof zu erreichen

einkalkuliert. Aber es ist wie das unbezwingbare Räderwerk der Turmuhr weit abgehoben auf dem Schieferdach der

Konzerthalle, was sie dazu zwingt, die geschehenen Dinge Revue passieren zu lassen. Was ist eigentlich die Ursache,

weshalb mein Kopf und meine Glieder so bleiern werden und ich nicht schnurstracks den neuen Lebensweg einschlage,

geht es der weit auf der Bank zurück gelehnten Sylvia durch den Kopf. Ich habe doch innerlich alles hinter mir, lange

genug gedreht und gewendet das Für und Wider des Zusammenlebens mit Pascal. Da fange ich doch nicht von Neuem

an, mich darüber zu zerfleischen, dass Pascal kein Unmensch, im Gegenteil ein liebenswerter Mann ist und ich trotzdem

so nicht weiter leben möchte. Mühsam kramt sie die Sätze zusammen, die sie Pascal auf zwei Papierbögen sorgfältig

und nach langem Abwägen hinterlassen hat.

Lieber Pascal,

darf ich das aus deiner Sicht eigentlich noch sagen, ohne dass du dahinter eine Ironie vermutet würdest?

Aber auch wenn du es nicht mehr glauben magst, so meine ich diese adjektivische Beschreibung immer

noch aufrichtig. Gerade die freundschaftliche Empfindung erleichtert es mir nicht, mich einerseits selbst zu

verstehen und nun gar auch noch bei dir Verständnis oder besser ein Begreifen meiner Motive frei zu legen.

Es ist mein fester Entschluss unsere letzten neun Jahre nicht weiter fortzusetzen. Damit meine

ich, dies ist ein endgültiger Gedanke, der nicht damit spielt, dass wir durch Veränderungen ein gemeinsames

Weiterleben aufrecht erhalten können.

Natürlich sehe ich das verdutze Vorspringen deiner braunen, treuen Augen und vermute sicher auch richtig

deine sofortige Frage. Wieso, was habe ich falsch gemacht und wir haben doch im Grunde immer sehr gut

harmoniert, gemeinsame Interessen gepflegt und auch ansonsten keinen Unfrieden gehabt?

Genau mit dieser Antwortfragekombination erschwerst du mir die Vernunftserklärung. Denn

ich weiß selbst nicht, ob es diese überhaupt gibt und ob ich oder vielleicht alle Weiblichkeit

der Welt, nicht überlastig durch den Bauch, ich nenne es extra nicht hochtrabend Gefühl, regiert werden.

Gott sei Dank bist du kein Choleriker und in Abwesenheit danke ich dir für dein männliches

Verhalten, mich nicht in die Hölle zu verdammen. Wie gern würde ich den Wunsch bei dir

lassen, dass du anderweitig dein Glück findest. Aber ich weiß,  wie trivial und untröstend

solche Anbietungen sind. Du kennst mich, ich gehöre auch nicht zu der großen Gruppe, die fahrlässig

mit Pauschalurteilen umgeht und die Erklärung für meinen Wandel darin sucht, dass Frauen und M

änner auf Dauer sowieso nicht miteinander auskommen können. Schon gar nicht, wenn der

Geistesanspruch angeblich hoch liegt. Was ich persönlich als intellektuelle Überheblichkeit ansehe.

 

Sylvia bricht ihre taufrische Rückblende ab und begleitet die herausströmenden Besucher des

Nachmittagskonzerts mit ihrem abwesenden Blick. Sie kennt das hochgeputschte Gefühl, wenn man leicht überdreht

aus einer gelungenen Vorstellung wieder an das Tageslicht heraus tritt und sofort der rege, sich ins Wort fallende

Austausch der frischen Eindrücke mit Pascal begann. Meistens benutze sie Worte wie schön, herrlich und begeisternd.

Wohingegen Pascal mit seiner pragmatischen Art, das Geschen in einer abstrakten Form zusammenfasste, ohne über

ihr Urteil dominieren zu wollen. Ja, stöhnt sie leise, ihr Pascal oder Cali, wie sie ihn am liebsten titulierte, hat schon viele,

prächtige, liebenswerte Charakterzüge. Ihre Entscheidung hat ja auch nichts mit der Hinwendung zu einem anderen

Mann zu tun und Frauen findet sie in der Regel auch nicht so irre.

Ich muss zum Zug, beendet sie vorläufig ihre starre Haltung und begibt sich in nördlicher Richtung, wo sie in zirka zehn

Minuten den pompösen Bahnhof mit seiner weit überspannenden Glaskuppel erreicht haben müsste. Mit ihrem Koffer

bahnt sie sich nach mehreren Entschuldigungen bei angerempelten Fahrgästen in der überfüllten Vorhalle einen Weg

an die Kartenschalter, lässt sich dort kurz die wirren Möglichkeiten der komplizierten Vergünsti-gungen erklären und

setzt ihren Weg auf den angegebenen Bahnsteig fort.

Länger hätte ich nicht vor der Konzerthalle verweilen dürfen, schießt es Sylvia durch den Kopf, als auch schon ihr Zug

zur Einfahrt angekündigt wird. Das spannende Erlebnis Zugfahren liegt bereits weit vergraben in ihren Erinnerungen

zurück. Als Pascal damals den kleinen Sportflitzer unbedingt kaufen musste, war sämtliche anderweitige Beförderung

passe.

Mit größter Kraftanstrengung hievt sie ihren Hartschalenkoffer in ein Abteil. Zum Glück hat sie gleich den

Nichtraucherabschnitt getroffen und muss ihr Gepäck nicht mehr ewig durch die schmalen Gänge zerren. Dankbar

registriert sie den einladenden Blick einer Frau in den mittleren Jahren und sie kann zwischen den noch fünf freien

Plätzen wählen. Denn nur die Dame belegt das Abteil und außer ihr selbst ist niemand zu gestiegen.

Nach den ersten Erledigungen des Gepäckverstauens und dem Aufhängen ihre feinmaschig gestrickten Jacke, kann

sie sich vom leichten Anrucken des Zuges beruhigen lassen, den Blick von der Brücke auf die lebhaft befahrene

Ausfahrtsstrasse schweifen und als sie davon genug hat, den ersten Blickkontakt mit der Abteilbegleiterin erneuern.

Sylvia erfasst sofort den Gesamteindruck einer eleganten, gepflegten Erscheinung gegenüber zu sitzen. Mein Gott was

muss sie von mir denken? Ich mit meiner lausigen Röhrenjeans und dem doch schon recht verwaschenen Twinsetteil.

Die Dame scheint sich ihres imposanten Eindrucks bewusst zu sein, denn mit einem gewinnenden Lächeln wendet sie

sich der jungen Frau zu und entwaffnet ihre aufkommende Peinlichkeit mit einer belanglosen Nachfrage nach dem

Reiseziel. Es stellt sich heraus, dass beide die Hauptstadt ansteuern und beide signalisieren durch einen winzigen

Augenaufschlag, dass ihnen der Gedanke einer längeren Gemeinsamkeit nicht unsympathisch ist.

Mit ihrer lockeren, entspannten Art lässt die elegante Erscheinung auch gar keine größere Pause aufkommen und

mutmaßt, dass Sylvia auf dem Weg in den Urlaub ist. Nein, nein beeilt sich diese den Irrtum zu verbessern. Für mich

geht es in ein neues Leben. Was erzähle ich hier vorschnell aus meinem privatesten Angelegenheiten, möchte sie sich

so gleich verbessern. Aber zu spät, das Interesse der sich vorbeugenden älteren Dame ist körper-sprachlich nicht mehr

zurück zu drängen. Nun gut denkt Sylvia, jetzt habe ich mich eh verplappert, dann kann ich den Rest auch noch

hinzufügen.

Bevor Sylvia zu einem, Sie müssen wissen, anhebt, unterbricht die Dame Sylvia und stellt sich als Hannelore Förster vor.

Sie können ruhig meinen Vornamen benutzen, versichert sie mit einem freundlichen Ton, der aber den Respekt nicht

aufhebt. Sie müssen wissen beginnt Sylvia nun endlich, heute ist ein Tag, an dem ich meine Entscheidung mich von

meiner langjährigen Partnerschaft zu trennen, umsetze. Sehr intelligent mit einem warmherzigen Ton hinterfragt

Hannelore, Sie sagen das so global, ich meine Sie beziehen ihre Formulierung nicht direkt auf ihren Partner.

Anerkennend mustert Sylvia die Frau erneut und denkt, wie gut sie gleich das Kernproblem heraus gespürt hat. Ein

wenig verunsichert bestätigt Sylvia, sehr richtig, Sie pieksen da in eine Lücke, die ich mir selbst nicht genau zurecht legen

kann. Wenn ich gefragt würde, na was hast du denn an deinem Pascal zu bemängeln, würden mir keine wesentlichen

Gesichtspunkte einfallen, die ein Außenstehender als Rechtfertigung für meine Entscheidung annehmen würde.

Hannelore lässt der Äußerung eine kleine Pause folgen und bestätigt Sylvia so dann, dass sie in der Familie eigene

Erfahrungen damit habe. Ihrer Tochter, obwohl erst siebenundzwanzig, gelingt es immer wieder ihre Beziehungen ohne

Grund in den Sand zu setzen.

Danach weiß keiner der Beteiligten und Befragten, warum der Schluss unausweichlich war. Sie müsse ihr aber darüber

hinaus erklären, dass sie in ihrem Leben total verschiedene Welten kennen gelernt habe und die westeuropäische Form

der Frauenentwicklung mit Respekt und Bewunderung verfolge, sich aber ein Maß erhalten habe auch Überziehungen

und Hinwendung zum Ungesunden der partnerschaftlichen Stabilität wahrnehmen zu können.

Zu ihrem Verständnis, wieso sie sich diese Richterrolle anmaße, muss sie ihr zur Vollständigkeit mitteilen, dass sie seit

Jahren als Frau eines Botschaftsmitgliedes im Iran lebe und bei aller Abschottung der dortigen Traditionen und

insbesondere der Frauenrechte natürlich das Extrem zu den heimatlichen Verhältnissen einschätzen kann.

Nun ist Sylvia klar weshalb Hannelore dieses bestechende, formbetonte Kostüm trägt und der breitrandige Hut die

gesamte gegenüberliegende Ablage in Beschlag nimmt. Ich bin nun niemand der behauptet, nur weil die Lage für Frauen

in diesem Land größtenteils entsetzlich erscheint, würde es uns hier viel zu gut gehen, setzt Hannelore ihre ernsthaften

Betrachtungen fort. Aber auf jeder Seite sei ein Ansatz der kritischen Überlegungen gestattet.

Wie um ihre Meinung zu untermauern und die Vorstellungskraft ihrer jüngeren Gegenüber zu beleben, nennt Hannelore

Beispiele, die in unseren Regionen schon lange in das Reich des Unvorstellbaren gerückt sind. Entgegen unserem

politischen System sind die islamistischen Staaten geprägt durch die enge Verknüpfung von Religion und Staat beginnt

Hannelore ihre Kenntnisse vorzutragen. Dabei ist nicht der Islam das Übel, der ja eher die Religion der

Gleichberechtigung repräsentiert, sondern die herrschende patriarchale Kultur schlägt sich in den Gesetzen nieder und

verhindert die Gleichberechtigung von Frau und Mann. Inzwischen gibt sich die Majless, d.h. das iranische Parlament

zwar den Anschein internationale Konventionen befolgen zu wollen, aber die Zustimmung jegliche Form der

Diskriminierung von Frauen abzuschaffen bedarf vor allem des Einverständnisses des Wächterrates sowie der religiösen

Führer. Vernünftige Vertreter des Landes plädieren allerdings weniger dafür, ausländische Vorgaben überstürzt und mit

Ungewissheit zu fördern, sondern halten es eher für notwendig von den menschlichen und islamischen Rechten der

Frauen zu sprechen. Es geht ihnen darum die Wurzel der Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern zu entfernen und

diese läge in einem falschen Verständnis der Religion.

Sylvia ist den komplizierten Darstellungen aufmerksam gefolgt, aber ihre Mimik muss doch verraten, dass sie sich die

Misere der Frauen nicht konkret vorstellen kann. Lächelnd kommt Hannelore ihr entgegen und fast entschuldigend fügt

sie hinzu. Ich weiß, das klingt sehr theoretisch, aber ich bin es gewohnt im Kreise von Diplomaten und

Hilfsorganisationen mit einem spezifischen Vokabular umzugehen. Übrigens sollen meine Mitteilungen bei ihnen nicht

den Eindruck erwecken, den Vergleich zur eigenen Situation zu ziehen und über ihre relativ harmlos erscheinenden

Probleme neu nachzudenken. Dazu sind die Extreme viel zu groß und eine Ableitung auf unsere Gegebenheiten wäre

ein Fehlgriff. Nichtsdestoweniger will ich ihnen gern weiter schildern, welche Repressalien diese Frauen von Geburt an

durchleiden müssen. Das beginnt mit der Zwangsverschleierung, die nicht nur ein Ausdruck der Religion ist, sondern

durch ihre Verhüllung die Frau als solche missachtet. Bereits mit fünf Jahren sind die Mädchen zu diesem Ritual

gezwungen, was wie eine eiserne Klammer ihr ganzes Leben bestimmt. Ab diesem Zeitpunkt soll sie sich als Frau fühlen

und es ist doch nichts anderes als die Negierung der Weiblichkeit. Es ist mit der Verachtung und Ablehnung des eigenen

Körpers gleich zu setzten, eine weibliche Identität wird im Keim erstickt. Bis vor Kurzem konnten diese armen Geschöpfe

bereits mit neun Jahren verheiratet werden. Inzwischen wurde dies auf zwölf Jahre herauf gesetzt. Schon wenn Frauen

angeblich Ehebruch begehen, werden sie öffentlich gesteinigt. Ebenso grausam werden Frauen durch Auspeitschung

bestraft, wenn sie gegen die Kleiderordnung verstoßen. Dabei müssen sie den Tschador, ihre bedeckende Tracht

anbehalten, so dass kein Schmerz und Leid sichtbar werden kann. Auch die Rechtssprechung bevorteilt den Mann

einseitig. Nach einer Scheidung gehören die Kinder generell dem Mann oder seiner Familie. Für die Frau gibt es keine

Möglichkeit ihre Liebsten zu behalten. Dem Mann wird das Recht zu gestanden seine Frau ohne jegliche Begründung zu

verstoßen, wann immer er will.

Auch in Fragen der Bildung dokumentiert sich die Frauenfeindlichkeit. Frauen werden getrennt von den Männern

unterrichtet und dürfen nur von Frauen ausgebildet werden. Diese lehrenden Frauen sind natürlich in der Minderheit,

was die Möglichkeiten ohnehin ein-schränkt. Diese strenge Geschlechtsapartheid setzt sich in der medizinischen

Betreuung fort.

Hannelore berichtet sichtlich bewegt, dass sie selbst miterleben musste, wie eine Frau nur deshalb sterben musste, weil

keine weibliche Ärztin in der Nähe war und die Familie die Hilfe eines männlichen Kollegen untersagte. Und so geht das

immer weiter, ob auf den Flugplätzen oder anderen öffentlichen Einrichtungen überall besteht diese strikte Trennung

nach dem Geschlecht. Für eine Frau ist es sowieso fast unmöglich sich frei und selbstständig zu bewegen. Ohne die

Erlaubnis des Ehemannes oder des Vaters dürfen sie überhaupt nicht reisen. Noch drastischer ist die Situation in

Afghanistan. Dort ist es den Frauen nicht einmal gestattet zu arbeiten. Nicht selten verhungern diese auf Grund des

fehlenden Einkommens.

Sylvia kämpft am Rande ihrer Erschütterung nicht in Tränen auszubrechen. Man hört ja so Einiges unterbricht sie

Hannelore, aber die Medien fliegen im Alltag oft oberflächlich an einem vorbei bzw. sind darauf fixiert nur bestimmte

Schreckensbilder auszuschlachten, die den Eindruck von Einzelerscheinungen vermitteln. Aber sie begreift jetzt besser,

dass die Frauen in diesen Ländern es überhaupt nicht gelernt haben, sich als Frau zu respektieren, liebevoll mit sich und

ihrem Körper umzugehen und grundsätzlich eine Wertschätzung für sich zu entwickeln. Wenn sie dann noch an die

anderen bekannten Ungerechtigkeiten, wie die Witwenverbrennung in Indien, den Mord von Mädchen direkt nach der

Geburt oder Beschneidungen in Afrika denkt, kann sie es eigentlich nicht begreifen, warum es solche Formen der

Frauenvernichtung geben muss.

Beide gönnen sich eine längere Pause und nutzen die Seenlandschaft vor den Toren der Hauptstadt, um das Gehörte

zum wiederholten Male oder wie bei Sylvia erstmalig so intensiv, zu verarbeiten. Unvorstellbar grübelt Sylvia als sie am

Ufer der Badeseen die menschlichen Tupfer in ihrer dürftigen Bekleidung vorbeiziehen sieht. Nicht im geringsten

belastet die Badelustigen, ob jemand sparsam oder großzügig mit seinen Reizen umgeht.

Geht sie von sich selbst aus, ist sie dem damaligen aufkommenden Trend, oben ohne, sehr rasch gefolgt und war

immer sehr stolz auf ihre Rundumbräune. Bei der größten Hitze schmachtete Pascal dann, verdeckt hinter der

blau-weiß gestreiften Badetasche vor den Blicken der anderen Sonnenanbeter, wie gern würde ich jetzt in die

Rundungen meines lieben Negerküsschens beißen und an ihnen herum schleckern. Sicher hat er inzwischen meinen

Brief gelesen und ausgerechnet heute, wo er immer so zufrieden von seinem Volleyballtraining zurückkehrt und sich auf

das Bierchen am schmuckgedeckten Abendtisch freut. Da muss er nicht nur auf den feingeschnittenen Salat verzichten,

sondern mit schweren Herzen verdauen, was ich ihm da unwiederbringlich auf dem Papier zurück gelassen habe.

Was würde er mir wohl als Antwort schreiben, nach dem sich sein erster Kummer gelegt hat, kreisen Sylvias Gedanken

zurück zu ihrem eigenen Schicksal. Sicher würde er so beginnen:

Meine liebste Sylvia-Königin,

was machst du mit mir? Ich bin noch niemals Fallschirm gesprungen und habe keine Ahnung

wie man die Reißleine bedient. Den Fall, den du bei mir verursacht hast, lässt viele glückliche

Bilder an mir vorüber ziehen. Das makellose Lächeln deiner ebenmäßigen Zahnreihen mit der

winzigen Lücke, wie könnte mir das je entschwinden. Habe ich etwas getan oder unterlassen,

was dein heiteres Lachen verstummen ließ? Wenn ja verzeih mir und erfülle mir die Bitte, zu

erklären was es war. In unserer Beziehung dachte ich immer lernfähig zu sein und nicht mit

zu vielen Eigenheiten gespickt deine Ermüdung hervorzurufen.

Deine Zeilen habe ich wieder und wieder gelesen, aber nicht den Hintergrund verstanden.

Eine Ohnmächtigkeit überzieht mich und eine Trauer unsere Liebe unwissend eingebüßt zu

haben. War es denn so einfach den Faden zu verlieren und konnte keine Kommunikation

diesen wieder aufnehmen?

Mein Brief besteht doch nur aus Fragen, denn ohne den Dialog vermag ich keine vernünftigen

Antworten zu geben.  

Ich wünsche nichts sehnlicher als die Chance dafür zu bekommen. Denn sei ehrlich, hatte ich sie denn?

In tiefer Liebe

Dein Pascal

 

Hannelore reißt sie aus ihren Halluzinationen und versucht die Ernsthaftigkeit wieder auf europäische Bahnen zu lenken.

Seien wir doch mal ganz offen, ist uns Frauen den immer wirklich bewusst, warum wir Überdruss empfinden und was wir

eigentlich wollen? Ich rede dabei nicht von unseren Geschlechtgenossinnen mit triftigen Gründen der Untreue oder

Vernachlässigung. Nein ich meine die normale, kultivierte Frau, die einen Partner gewählt hat der Mal ihren

Vorstellungen sowohl physisch als auch psychisch entsprochen hat und wo es eine Reihe gemeinsamer Interessen gibt.

Und doch gibt es den Tucholsky-Effekt, dass man den Anblick des eigenen Mannes nicht mehr in der Unterwäsche

ertragen kann.

Sylvia nickt bedächtig zum Zeichen der teilweisen Zustimmung und bestätigt, dass es keinen eindeutig erkennbaren

Schnittpunkt gibt, an dem die Unzufriedenheit kehrt macht. Diese schleichende Entwicklung ist gerade der Grund für die

beschwerliche Erklärung, ob man tatsächlich mit dem Gefühl geboren wurde oder es erst aufkochen musste, etwas

verpasst zu haben. Es ist die Unklarheit zu artikulieren, was fehlt mir in meinem Leben eigentlich, was vermisse ich. Die

Gewohnheit ist der Nährboden und die Unfähigkeit der Aussprache der Dünger für die Saat des Beziehungsendes.

Sehr hübsch formuliert schnalzt Hannelore mit der Zunge. Aber wenn das so einfach ist, wo bleibt dann der Sinn der

Fortpflanzung und wie richtet sich jeder auf den Sinn des Lebens ein. Ganz zu schweigen davon, dass keiner vor der

Vorstellung zurück schrecken darf, was er unter Liebe versteht. Für sie beginnt das beim Wohlfühlen in der Gegenwart

des Anderen und wächst bis dahinaus, für den anderen uneingeschränkt alles geben, aber auch nehmen zu wollen.

Nie hätte Sylvia gedacht, dass es zu einem so tiefen Gespräch mit der eleganten Dame kommen würde und noch

weniger, dass es so schwierig sein würde, ihre Betrachtungen parieren zu können. Hätte ich von einer Frau mehr

Solidarität oder Einfühlungsvermögen erwartet, flüchtet sie sich in ihre stummen Gedanken. Im Stillen verteidigt sie sich

damit, dass doch jeder für sich selbst entscheiden muss, was für ihn gut ist, egal ob die Vernunft Ein-wände vorbringen

kann. Man muss das früher einfacher gewesen sein, als die Rollenverteilung Arbeit, Haushalt und Kinder noch eindeutig

definiert und unumstößlich war. Spinne ich jetzt, rafft Sylvia ihre Stimmung zusammen und wirft sich innerlich vor, nun

bin ich vielleicht noch undankbar dafür in einer Zeit und an einem Ort geboren zu sein, wo die Unabhängigkeit für die

Frau ebenso möglich ist wie für den Mann.

Sie verabschiedet sich herzlich von Hannelore, die auch sehr wohlerzogen nicht den leisesten Ratschlag vorbringt und

eilt zügig zu den Bahnsteigen der S-Bahn. Auf dem ratternden Weg zu ihrer Schwester Isabel, die sie seit langer Zeit

schon entbehrt hat und die den eigentliche Grund ihres Kommens nicht ahnt, grübelt sie weiter. Ich bin doch kein Typ der

Fronten aufbaut. Meine Gedanken und Erinnerungen sind offen und doch bin ich gespannt auf welche Seite sich Isabel

schlägt. Werde ich ihr erklären können, warum ich gegangen bin?

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