Die blaue Plane

Mitten im Pauluspark liegt Jakob, die Beine eng angezogen auf einer der altertümlichen Bänke unter den Schatten

spendenden, wuchtigen Kastanien. Für den dreißigsten April ist es noch recht frisch und in der Nacht hat es unaufhörlich

aus den düsteren Wolken gegossen.

Selbst die unerschrockenen Hundebesitzer drehen heute nicht ihre gewohnte Parkrunde, um wie sonst, mit gesengtem

Blick und den Gang beschleunigend an dem schlafenden Menschen-bündel vorbei zu eilen. Jakob hat sich als Schutz

vor der Regenflut die blaue Folie mit den Sternenmotiven über-gelegt. Das waren noch erfreulichere Zeiten als er in

Begleitung von Fred seine Touren quer durchs Land mit Fröhlichkeit genießen konnte. Auch die Menschen, die ein

normales Leben führten, schienen ihm damals entgegenkommender und ab und an konnte er Mitempfinden spüren und

verlorengegangen geglaubte Erinnerungen aufwärmen. Aber eigentlich wollte er an das andere Leben, als er noch ein

Heim, Arbeit und die Frau und Kinder Tag für Tag um sich hatte, nicht länger in seinem Gedächtnis behalten. Das

erscheint ihm alles wie ein ungelebter Traum, in dem er keine tatsächliche Rolle spielen musste.

Heute denkt er nicht an Morgen ja kaum bis zum Abend, erst wenn die Beine und Augen müde werden, geht er vom

Instinkt getrieben wie ein Tier dort hin, wo ihm seine Erfahrung ein ruhiges Plätzchen aufspürt. Nicht immer hat er dabei

die richtige Wahl getroffen. Mal sind es unerwartet Jugendliche, die aus einer zuvor nicht bemerkten Kellertür treten,

hinter der sich eine sogenannte Szenenkneipe verbirgt. Erst vor fast genau einem Monat hatte er ein solch bitteres

Erlebnis. Drei Jungen und zwei Mädchen, alle in einem ähnlichen Kleidungsstiel mit langen zu geknöpften Mänteln,

bemerkten Jakob und sein Bündel. Er hatte sich drei halb zerbrochene Obststiegen zusammen geschoben, um nicht

direkt auf dem ölverschmierten Boden kauern zu müssen. Besonders die Mädchen schienen daran Gefallen zu finden,

sich über den schmutzigen, fast nur aus Bart bestehenden Obdachlosen lustig zu machen. Seine Wehrlosigkeit wahr

gerade zu aufreizend für die Jugendlichen ihn mit Lästerungen und Beleidigungen zu überhäufen. Jakob, dem solche

Ängste nicht mehr unbekannt waren, krümmt sich ganz mechanisch immer mehr zusammen und wäre in diesem

Moment wohl lieber ein Igel gewesen, der nur noch seine Stacheln nach außen kehrt. Zu seinem Glück trieben die Fünf

es nicht weiter, da einer von ihnen die anderen zu irgendeinem Konzertbeginn ermahnte und ihnen dies wichtiger

erschien, als das Spiel mit dem alten Penner.

Da war die gemeinsame Zeit mit Fred wie Tag und Nacht zu seinem jetzigen kümmerlichen dahin vegetieren. Fred hatte

er auch zu verdanken, dass er sich heute Nacht mit der großen blauen Plane schützen konnte. Es muss schon zirka drei

Jahre zurückliegen, als sie in einem Vortort von Köln auf den kleinen Wanderzirkus Bunterkunt gestoßen sind. Das

waren freundliche und hilfsbereite Menschen, die für alles Verständnis aufbringen konnten. Das war auch das erstemal,

dass sie, wenn auch wenig, selbstständig Geld verdienen konnten und nicht durch Ansprechen auf der Strasse darauf

angewiesen waren. Durch einen Zufall lernten sie Gregor den Pferdedresseur kennen, als dieser seine Pferde am

Ortseingang grasen lies. Wie immer stampften sie nacheinander am Straßenrand laufend mit ihren zotteligen

Rucksäcken an denen alles Erdenkliche herumbaumelte in Richtung Stadt. Auf der Höhe von Gregor angekommen, der

beruhigend auf seine Zirkustiere einredete, sprach er die beiden an, ob sie ihm nicht mit einer Zigarette aushelfen

könnten. Fred hatte zum Glück welche, die er gerade zuvor am letzten Bahnhof von einem dunkelhäutigen Mann mit

einer Gitarre unter dem Arm spendiert bekommen hatte. Jakob hatte dieses Laster aufgegeben, nachdem die

unaufhörlichen Hustenanfälle und das Gemurmel des nicht einschlafen könnenden Freds kein Ende genommen hatten.

Irgendwie merkten sowohl Gregor als auch die beiden Herumziehenden, dass sie sich sympathisch waren.

Wahrscheinlich schon allein dadurch, dass sie ein ähnliches Leben führten und sich nicht mehr vorstellen konnten,

länger als ein paar Tage an einem Ort auszuhalten. Genüsslich zündeten Gregor und Fred zur Gesellschaft gleich mit,

sich die stinkenden Stengel an. Während Gregor den ersten Qualm ausblies und die beiden aus seinen

zusammengekniffenen Augen beäugte, fragte er ganz wie nebenbei, woher sie denn gerade kämen. Fred der Sprecher

für beide und nie um eine rasche, verschmitze Antwort verlegen, meinte nicht vom Himmel, nur geradeaus immer der

Straße entlang. Du bist wohl ein ganz Schlauer konterte Gregor und berichtete seinerseits, dass er mit seinem Zirkus

gerade heute in der Stadt eingetroffen sei und nun da das Zelt bereits aufgebaut wurde, seine Pferde füttern und in

Bewegung halten will. Übrigens gäbe es auch noch ein paar Arbeiten für die nächsten Tage, wo wir noch zuverlässige,

zupackende Kerle gebrauchen könnten. Sein Blick war dabei sehr einladend und machte einen kameradschaftlichen

Eindruck. Besonders Jakob war von einer solchen Möglichkeit sehr überrascht, er hatte völlig vergessen, dass es so

etwas wie Regelmäßigkeit oder Eingliederung gab. Fred signalisierte durch eine bedächtige Kopfbewegung

Zustimmung, als ob man es sich ja mal durch den Kopf gehen lassen könnte. Glück mit dem Wetter haben wir auch,

setzte Gregor das Gespräch fort. Auch für ihn schien das Angebot als vereinbart. Er erklärte ihnen den Weg, da er nicht

so gleich mitkommen könnte und erst noch die Versorgung der Tiere fortsetzen müsste. Sie sollten sich aber bei der

blauen Lola melden und auf sein Wort beziehen. Schweigend gingen die beiden weiter. Jeder für sich musste das

Ungewöhnliche erst ein mal verarbeiten. Zuerst brach Fred das Schweigen, der schneller mit der erstaunlichen

Situation, dass jemand sie haben wollte, umgehen konnte. Es brachen gerade zu die Erinnerungen aus ihm heraus und

egal ob Jakob ihm folgen konnte oder nicht, berichtete er von seiner Kneipe, den Stammgästen, die Abend für Abend

erschienen und ewig den gleiche Singsang bis zum Schließen der fein verzierten Gasthaustür vor sich hin brabbelten.

Warum er letztendlich  dieses Leben führen muss, konnte Jakob nicht mehr aus den an Tränen zu erstickenden

Wortschwall heraus hören.

Als sie den Zirkusplatz betraten hatte sich Fred wieder beruhigt und sie gingen forschen Schrittes auf den ersten der

lustig bunt angemalten Wagen zu. Jakob sollte klopfen, zögerte aber, weil er es nicht mehr gewohnt war auf andere

Menschen zu zugehen und sich nicht nur um sich selbst zu kümmern. Bevor er sich gerade wieder umdrehen konnte,

wurde die Wagentür mit einem Ruck geöffnet und durch eine mächtige Erscheinung vollends ausgefüllt. Die dazu

passende raue Stimme fragte sie nicht gerade überfreundlich, was sie hier suchten. Glücklicherweise hatte Fred sein

Zutrauen wiedergewonnen und entgegnete schlagfertig, dass wir die blaue Lola suchen, Gregor schickt uns. Sie muss

ihren Namen gehört haben, denn sofort erschien hinter dem Koloss eine stark geschminkte schwarzhaarige Schönheit

mit einem niedlichen weißen Hündchen im Arm. Den Beiden fielen die nächsten Worte nicht so gleich ein, sie waren es

einfach nicht gewohnt, von einer Frau angesprochen zu werden. In ihrem Leben hatten sie den Bezug zum anderen

Geschlecht vergessen und ausgelöscht. Lola war eine kluge Person und konnte auch so erraten, warum Gregor sie

geschickt hatte. Na ja, besonders prächtig seht ihr ja nicht aus. Geht da hinter an den Wagen wo die Papageien am

Eingang hängen. Dort könnt ihr euch waschen und ich lass euch auch ein paar Latzhosen vorbei bringen.

Nach dieser ungewohnten Verwandlung, frisch gewaschen und so gar die Bärte hatten sie frisch gestutzt, stolzierten die

beiden neugierig durchs Zirkusgelände, blieben überall stehen, um die Artisten, die sich davon nicht stören ließen,

ungeniert beim Proben zu beobachten. Nur bei den in ihren Käfigen stumm vor sich hin starrenden Tieren aus der fernen

Wildnis überkam sie Respekt und ein Hauch der Abenteuerlichkeit. In dem Moment als sie ihre Runde als beendet

ansahen, kam Gregor mit seinen langmähnigen Stuten zurück. Na habt ihr schon alles beschnuppert, posaunt er ihnen

schon von Weitem entgegen. Es dunkelte bereits und ihnen wurde ein Platz aus Stroh gleich neben dem Pferdezelt zu

gewiesen. Morgen könnt ihr dann gleich mit der Arbeit beginnen, ihr wacht schon von allein auf, wenn hier der Betrieb

beginnt, rief Gregor ihnen  lachend zu.

So ging es auch wirklich gleich fünf Uhr in der Früh zur Sache. Die beiden kannten diese Regelmäßigkeit nicht mehr. Ihre

Gewohnheiten passten sich den Gegebenheiten an. Was einerseits von der glücklichen Wahl des Schlafplatzes selbst,

als auch der durch Zufall sie umgebenden Menschheit abhing. Am ersten Tag wurden sie von einer Ecke zu anderen

geschickt. Käfige ausmisten, Stangen und Seile festzurren, Bänke montieren und wischen, Essen verteilen, Kleider

ausbürsten, Kamele an der Leine herumführen, waren Beschäftigungen, die den Tag wie eine Stunde statt 12 Stunden

davon rasen ließen. Der Höhepunkt kam jedoch erst am Abend, denn vor der ersten Vorstellung war es Sitte im Zirkus

Kunterbunt, dass alle Künstler, Pfleger und Helfer sich um ein großes offenes Feuer versammelten und ein herzliches

Plaudern und Albern mit dem gemeinsamen Daumendrücken für die Vorstellung begann. Nach einer halben Stunde

hatten Fred und Jakob bereits das Gefühl, als wären sie schon immer in dieser wunderbaren Zirkusfamilie integriert.

Es gab keine bösen Worte und auch die angebetete blaue Lola bewegte sich zu jedem, als gäbe es keinen Unterschied

zwischen ihnen. Auf ihrem Heu liegend konnte keiner von beiden so recht Schlaf finden und beide schienen sich

unabhängig voneinander zu wünschen, dass dieses Leben doch ebenso unaufhörlich weiter gehen sollte, wie der

endlose Himmel in den sie ihre Blicke bohrten.

Es blieben noch der Samstag und Sonntag an denen der Zirkus in der Stadt gastierte. Und auch diese Tagen waren von

dem gleichen Frohsinn und der unerklärlichen Wendung für Fred und Jakob geprägt, wie es mit Gregors Begegnung

begonnen hatte. Unausweichlich rückte die letzte Vorstellung heran, noch ein mal das viele Licht, die glänzenden

Kostüme, strahlenden Gesichter und die bewundernden Rufe des Publikums. Fred und Gregor wussten, dass es

unmöglich war, dieses kurze Glück fortzusetzen, auch wenn sie die ganze Nacht davon geträumt hatten. Sie wurden

hochgeschreckt durch die lauten Rufe des Koloss, denn dieser war der Boss für das Auf- und Abbauen des gesamten

Zirkus. Fred und Jakob konnten noch ein mal kräftig mit zu packen und sie wollten ihren neuen Freunden auch

beweisen, dass sie gute Kerle sind, auf die man stolz sein kann. Fred war besonders von diesem Übermut befallen. Er

meldete sich sofort beim Koloss und bat tollkühn darum, die Seile an den oberen Zeltmasten lösen zu wollen. Der Boss,

der die beiden inzwischen mit seiner raubeinigen Art ins Herz geschlossen hatte, wollte Freds Elan nicht bremsen und

meinte, na los mein Junge, gib aber acht wohin du trittst. Geschickt wie ein Affe es nicht besser machen könnte, was

ihm wohl keiner zugetraut hätte auch sein Begleiter Jakob nicht, schwang er sich Stück für Stück nach Oben. Dort

angekommen folgte er den Weisungen der erfahrenen Helfer und begann Öse um Öse zu lösen. Sein Gesicht bekam

ein solches Strahlen, welches es wohl nur in seinen glücklichen Tagen gegeben hat. Jakob schaute im gierig zu und

nahm diese Zufriedenheit auch für sich mit auf. Keine Handbewegung ließ er aus seinem Blick entschwinden, so konnte

er auch sehr gut erkennen, dass Jakob noch zwei Ringe lösen musste. Gerade als Jakob auf die nächste Stange treten

wollte, geriet er ins Schwanken und rutschte von dem Balken, auf dem er eben noch so siegesfroh gestanden hatte, ab.

Auch der Versuch sich mit seinen Händen in den Seilen festhalten zu wollen misslang. Mit einem einzigen Krachen

landete er in der mit Sägespänen bedeckten Arena. Völlige Stille trat ein und alle Umste-henden gingen voller Angst auf

seinen toten Körper zu. Sein inzwischen vollständig rasiertes Gesicht hatte immer noch dieses glückselige Lächeln und

seine offenen Augen schienen zu sagen, das war doch ein schönes Ende.

Jakob begleitete Freds Sarg noch zu seiner Ruhestätte in einer Stadt, die auch jede andere hätte sein können. Gregor

sprach einen kurzen Abschied für alle. Er sprach nicht von Trauer sondern vom letzten kurzen Glück, welches Fred

vergönnt wurde. Jakob blieb als Erinnerung die blaue, sternengeschmückte Plane, die zuvor dem Zuckerwattewagen als

Vordach gedient hatte.

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