Die Suche nach dem Ich

Eigentlich hatte ich mir diesen Samstag ganz anders vorgestellt, als den Verlauf, den er nun nehmen sollte.

Begonnen hat er mit lachenden Strahlen, die die noch tief stehende Sonne entgegen der sonstigen

Jahreszeitengepflogenheit großzügig spendet. Soll wohl für mich bedeuten, he alter Junge mit Mitte Dreißig hast du noch

nicht das Recht, deinen Tag hinter den geschlossenen Jalousien zu vergeuden. Unter diesen Umständen lasse ich mich

gern von meiner inneren Stimme, die den äußeren Aufmunterungen beipflichtet, überreden.

Kurz entschlossen trenne ich mich von meinem Vorhaben noch ein mal in eine leichte Halbtraumphase zu verfallen,

schlage für mich selbst demonstrativ die Decke beiseite und habe keine Scheu mehr davor, die Beine auf den von der

Nacht ausgekühlten Holzboden landen zu lassen.

Meinen Tagesfahrplan habe ich bereits am Vorabend abgewogen und nur wenige Varianten ins Kalkül gezogen. Wenn

ich zu Abweichungen gezwungen werde, kann ich mich immer darauf verlassen, dass in meine Auswegdenken passable

Alternativen purzeln. Das klingt recht simpel, bedarf aber auch bestimmter persönlicher Voraussetzungen, um ein

Umdenken nicht als Katastrophe zu praktizieren. Als Single beschäftigte ich mich auch wesentlich intensiver damit, wie

ich selbst mit mir umgehe, Situationen betrachte und bewältige, um auch noch im Nachhinein zu sondieren, war dein

Verhalten optimal oder muss ich mal wieder lernbereit sein.

Das klingt alles schrecklich pedantisch, versuche ich meine Frühgedanken zu ordnen. Aber Schuld hat doch einzig die

Alleinseinstimmung. Wenn ich dann noch darauf verzichte meine Aufstehhandlungen durch Musik begleiten zu lassen,

gelingt es mir noch weniger aus dem bewussten Gedankenspiel zu entfliehen. Natürlich macht das auch Spaß, sich

dadurch reiner und gerechter zu empfinden und man ist nicht abgeneigt diesen Zustand zu glorifizieren und

sich gegenüber den geplagten Familienmenschen, die oberflächlicher durch die Welt schreiten, aufzuspielen.

Geistigen Tiefgang betrachte ich schon als Vorteil meiner jetzigen Lebensphase und es ist mir vorher nicht bewusst

gewesen, welches Harmoniebedürfnis man für sich selbst entwickelt. Im Kreise einer Familie bist du nur ein Bestandteil

von vielen Problemen und verschiedenartigen Wünschen. Ist man dazu noch ein unegoistischer Typ, der gern teilt und

gibt, kommst du unter die Räder der liebsten Nutznießer. Das ist auch richtig und wunderbar für alle Beteilig-ten in dieser

Zeitspanne.

Vielleicht ist es sogar besser, wenn man in Phasen leben muss und nicht wie an einer Kette sein Leben nur auf einer

Bahn verfolgt. Anders kann ich mir eine vortreffliche Reifung der Hirn- und Herzmasse auch nicht erklären. Erfahrungen

kann man nicht als Außenstehender filtern, sie müssen tief in einen eindringen, zwicken und zwacken, bis die Erkenntnis

auf-leuchtet und wenn es Not tut auch die Lebensphilosophie läutert.

Aber was schwätzen meine Rückblenden so klug, wie toll es ist zu sich selbst zu finden. Denn ich begebe mich gerade,

verwöhnt von der Nassrasur an den Küchentressen und denke, ist doch alles Scheiße, wieder allein Frühstücken zu

müssen. Da habe ich es wieder, so ein Jammerlappen, bläut sich immer wieder ein, dass jeder Zustand mit Vorteilen und

Nachteilen behaftet ist und kaum wagt sich ein unschöner Nachteil hervor, fängt die Bemitleiderei an.

Mutig werfe ich die Gefühlsduselei über Bord und nehme mir tatendurstig vor, noch vor dem ersten Brötchenbiss mein

trainiertes Hinterteil auf die Radrolle zu hieven. Dazu öffne ich die schmale Balkontür, überprüfe erst ein Mal, was sich

hinter der gegenüberliegenden Fensterfront bewegt und beginne damit die Füße in die Schlaufen einzuhaken.

Meistens nutze ich aber nicht die bequeme Heimvariante, sonder genieße es viel mehr, mein Zweitrad aus dem

Hausgemeinschaftsraum an den anderen langweiligen Cityrädern vorbei zu bugsieren und dann möglichst flott auf dem

Mountainbike das Wohnviertel in Richtung ehemaliges Panzergelände zu verlassen. Es ist nicht nur ein wildwüchsiges

Terrain mit vereinzelten gakeligen, hochgewachsenen Birken, die nicht zum Spielball der Stahlmonster wurden, sondern

mit seinen Hügeln und sandigen Passagen ist es eine Lust, die eigene Kraft und Geschicklichkeit auszuleben. Da bleibt

keine Zeit für philosophische Versuche. Erst auf dem Rückweg, wenn die Anspannung und Konzentration nach lässt, die

nötig ist für die fahrerische Auseinandersetzung mit den tiefen, profilierten Sandspuren und verdeckten

Wurzelhindernissen, beginnt das geistige Räderwerk erneut, um entweder die Geschehnisse des Tages zu verarbeiten,

ein mögliches Date durchzuspielen oder wieder mal eine Phase des Eigensinn abzuchecken.

Wirklich eine Wonne windgeschützt auf seinen sechs Quadratmetern unter der wärmenden Sonne, die fast schon

komplett den Giebel des Nachbarblocks überschattet, zu strampeln und den Tagesfortsatz nach meinen Vorstellungen

ablaufen zu lassen.

Nach dem Frühstück bleibt kaum Zeit für das übliche Tagesblatt und ein kleines Computervergnügen, denn ich habe

Michael meinen Mittagsbesuch versprochen. Eigentlich war dies ziemlich spontan von mir zugesagt. Aber irgendwie tut

mir mein Kollege auch leid. Seine Trennung von der angebeteten Ramona ist noch so frisch und man merkt ihm seinen

Kummer direkt körperlich an. Und als er mich so lieb bettelte, doch zum Mittag vorbei zu schauen, konnte ich meinen

Verstand überzeugen, der natürlich eine sich wiederholende Jammerarie erwartet, nicht abzulehnen. Außerdem hatte ich

bereits von anderen Mitarbeitern vernommen, dass er ein vortreff-licher Gourmet sein soll, der mit seiner Kochbegabung

selbst anspruchsvolle Mäuler verzaubern kann.. Natürlich wurde diese Information von der Häme begleitet, dass der gute

Michael doch selbst Schuld daran sei, wenn Ramona der Verwöhnerei überdrüssig wurde.

Auch so eine Machodarstellung, dass man das weibliche Geschlecht in einer Beziehung nicht zu sehr verhätscheln solle,

da meist die gegenteilige Reaktion daraus erwüchse und dies in einen unbefriedigten Zustand überschwappen würde.

Bin mir selbst nicht schlüssig, ob solche Gedankengänge ernst zu nehmen sind. Da gibt es im Umfeld sicher Erfahrungen,

die eine Trennung unverständlich erscheinen lassen und andere, in denen die Partnerin nicht viel zu Lachen hat und

zärtlicher Umgang Mangelware ist. Trotzdem hält die Beziehung wie Pech und Schwefel. Selbstverständlich bleibt für den

fremden Betrachter offen, ob Leid unterdrückt wird, Angst vor unbekannten Grenzen der Hemmschuh ist oder gar

Empfindungen für verlorene Glücksambitionen unterentwickelt sind. 

Das Tischdecken lohnt sich gar nicht, ruck zuck sind die vier halben Brötchen einem Ritual folgend, erst zwei mit

Pflaumenmus und Erdbeerkonfitüre Bestrichene und darauf folgend die beiden andern mit herzhaftem Käse belegt,

verschlungen. Wenn ich nun noch fest definieren würde, wann und wofür ich die Ober- und Unterhälfte einsetze, läge der

Verdacht der Spießigkeit vor. Da ich daran nun wirklich keinen Gedanken verschwende, bleibt mir Zeit, die immer

wiederkehrende Frage erneut aufzunehmen, was erwarte ich oder andere von einer dauerhaften Partnerschaft.

Wie oft habe ich schon die fade Einschätzung, es muss sowohl im Kopf als auch beim Sex stimmen, vernommen. Mir

kommt das so brutal oberflächlich vor, denn nichts erinnert dabei daran, wie Harmonie erwachsen kann, wie

Gemeinsamkeiten ausgelotet werden und das letzendlich der weibliche Orgasmus nicht durch eine besondere

Eindringtechnik, sondern eben durch das geistige Ja, den unbedingtem Willen zu dieser Partnerschaft hervorgerufen

wird. Über uns allen steht keine goldene Regel, wie viel gemeinsame Interessen man haben muss, wie oft man in seiner

Meinung abweichen darf, wie weit der Ordnungssinn sich spalten kann, ob Bildungsunterschiede auf lange Frist

überbrückbar sind, das Phantasie und Bodenständigkeit sich nicht ausschließen müssen, ob Kinderbehandlung uneben

sein darf, Spontaneität der Feind von Bedachtsamkeit sein muss. Über allem steht doch die Schlüssellösung, tut es

intensiv, das was euch verbindet und wisset was es euch trotz schwimmender Gräten wert ist. Man kann diesen

Fischteilen ausweichen, untertauchen, aber nur so lange der Atem reicht. Wer es nicht kann, muss aus dem

gemeinsamen Bassin für immer aussteigen, an Land bleiben oder eine neue Wasserquelle suchen.

Während ich meine Sachen für das männliche Mittagsdate rauslege, kann ich nicht umhin, mir darüber klar zu werden,

warum ich meine persönlichen Überlegungen nur in mich verschließen kann. Ob Michael vielleicht eine so intensive

Gesprächsebene sucht. Interessant kann es schon werden, zwischen einem der den Schmerz hinter sich gelassen hat

und mit den Einsamkeitsbedingungen auch recht gut leben kann und einem der frisch in die Qual hinein

getitscht wurde.

Ich binde mir noch die neuen weichen Treter zu und bin mittlerweile doch ganz vergnügt, den armen Tropf zu besuchen.

Wahrscheinlich bilde ich mir in meiner Überlegenheit ein, ihn mit glasklaren Vernunftsgründen aufrichten zu können.

Dabei sollte ich mich nur zu gut an meine eigenen Strapazen besinnen. Leid kann nicht durch die Worte und Ratschläge

anderer aufgesogen werden. Hauptfaktor bleibt die Zeit, die jede Wunde mildert. Dazu kann sich der Zufall gesellen,

schneller abgelenkt zu werden, als man es erwartet hat. Die stärkste Waffe aber ist der innere Kampf, das Potenzial in

sich selbst zu erkennen, den Wert der Unabhängigkeit zu nutzen und Unerfülltes, Verborgenes frei zu legen.

Fünf mal fünf Treppenabsätze muss ich übermütig hinunter federn, um wieder im Rampenlicht der Mittagssonne zu

glänzen. Sehr wohl fühle ich mich in meiner leichten roten Jacke, die endlich die dunkle, schwere Winterjacke ablösen

darf und die freundlichen Blicke aus den gegenüberliegenden Fenstern, scheinen mir zu bestätigen, welchen Optimismus

mein Rot verbreitet.

Ich entschließe mich den Weg durch die weitläufige Gartenanlage zu wählen, so komme ich auf dem kürzesten Weg zu

dem imposanten Viadukt, welches meinen Stadtteil mit dem von Michael verbindet. Verblüfft nehme ich ein Liedchen

trällernd wahr, in wie vielen Gärten bereits ein gebeugter Rücken von der Emsigkeit der Pächter zeugt. Aber sehr oft fällt

mir auf, dass nur jeweils eine Person der Arbeit oder bestimmt in den meisten Fällen dem Hobby nachgeht. Aha trillert

mein geschultes Beziehungshirn, soll das der Beweis dafür sein, dass eine Bindung besser funktioniert, wenn jeder nur

seine Beschäftigung verfolgt? Wo zieht man da die Grenze, wie viele verschiedene Anspruchsarten zwischen den

Menschen gibt es?

Mich selbst halte ich doch auch für ganz normal, verträglich und anpassungsfähig und trotzdem wäre ich erbost, wenn

mich jemand in die Kategorie Nullachtfünfzehn einordnen würde.

Was bin ich nur für ein Trottel. Anstatt mich an der Gepflegtheit der Anlagen und den ersten Knospen, die so viel

Lebensfreude versprühen, zu erfreuen, kauderwelsche ich ergebnislos mit meinem Ich. Dem Einbahnstraßendenken

kann ich endlich ein Ende setzen, denn ich bin vor dem Reihenhaus Nummer siebzehn in der Rosensiedlung angelangt.

Ein Bau der langen Reihenhausfront gleicht dem anderen, wie ein Ei dem anderen. Da gibt es nur wenig Spielraum, sich

in der Anordnung der Minivorgärten zu unterscheiden. Keine Gestaltung hebt sich von der anderen ab, eher wird der

Eindruck vermittelt, als hätten alle Nachbarn sich bemüht oder vielleicht auch damit abgefunden, in die vorgegebne

Uniformität zu ergeben.

Das Prachtwetter hat die emsigen Anwohner wie Ameisen nach draußen gespült. Jeder hat eine Gartenhilfe in der

Hand, mit der er tatsächlich etwas am Boden bearbeitet oder sich nur darauf stützt, um geruhsam einem

Nachbarschaftsplausch zu frönen. Während ich die Klingel betätigte, die einen hellen Melodiereigen von sich gibt, fällt

mir auf, dass Michael, der doch als so peinlich exakt bekannt ist, in seinem Pflanzbereich Rückstände zugelassen haben

muss. Ich ahne bestimmt richtig, dass eine Lethargiefolge seiner neuen Umstände die Ursache sein wird.

Hallo ruft Michael mir freundlich entgegen und geleitet mich mit einer einladenden Handbewegung in seinen kleinen mit

Garderobenmöglichkeiten völlig überladenen Flur. Als ich weiter hineinschaue und bereits seinen Wohnbereich erspähe,

komme ich nicht umhin, für mich zu analysieren, schrecklich diese Schrankwandeinrichtung und dazu klotzt

raumausfüllend noch ein Ecksofaungetüm, wer da wohl den Raum betritt und sich gleich auf seinem geblümten Bezug

niederlassen wird.

Ich versuche mir meine innenarchitektonische Schockiertheit nicht anmerken zu lassen und beginne so gleich vom

Strahlewetter zu quatschen. Eine gute Wahl der Gesprächseröffnung, denn so gleiten wir gleich nahtlos von der

Notwendigkeit der Gartenarbeit in sein Nachbarschaftsumfeld über. Ich muss Michael in die Küche folgen, weil sein

Burgunderbraten sonst nicht die rechtzeitige Drehung erhält. Hier gefällt es mir gleich wesentlich besser. Alles ist

akkurat angeordnet und man merkt, dass eine wissende Hand die Funktionalitäten der Küchenarbeit bedacht hat und

sämtlicher Firlefanz keine Chance bekommt. Selbst die schweren Raffgardinen des kitschigen Wohnzimmers mussten

hier in seinem Reich, wie ich so gleich die Aussagen der Kollegen bestätigt bekomme, nützlichen Lammellenholzrollos

weichen.

Direkt unter dem Fenster mit Blick auf seine weinbewachsene Garagenrückwand gibt es eine gemütliche zwei Personen

Sitz- und Essmöglichkeit. Der gute Michael, wie ich ihn nach den Eindrücken der Küchenatmosphäre schon betituliere,

hat unseren Rendezvoustisch mit viel Geschmack gedeckt. Ganz abweichend von seinem sonstigen Inventar, bin ich

von dem Essservice, welches in den gelben und grünen Farben der Provence erstrahlt, richtig beeindruckt. Auch seine

Serviettenfähigkeit macht aus dem Papierstück ein kleines verschlungenes Kunstwerk, welches einem Fünfsterneniveau

nicht nachsteht.

Man Michael, du bist ja ein Tausendsassa und könntest glatt den Platz eines Chefkochs einnehmen, versuche ich ihn

heiter zu loben. Nun warte doch erst mal ab, ob der Topfinhalt das hält, was du dir vielleicht versprichst, ist seine

vorsichtige Reaktion mein Kompliment abzuschwächen. Vorzüglich der Braten und wie du die Soße kreiert hast, bleibt

wohl dein Geheimnis, beginne ich nach den ersten Bissen die Lobeshymne von Neuem. Er lächelt nur verlegen und mit

leiser Stimme entgegnet er, na ja, habe ich schon länger nicht mehr gemacht. Ist doch jetzt sowieso alles sinnlos

geworden, wo sie nicht mehr da ist. Behutsam setze ich den Rotweinkelch auf die Sonneblume des Deckchen und frage,

du vermisst sie sehr? Meine bedachte Frage löst einen Wortschwall bei Michael aus. Erst jetzt begreife ich wirklich, dass

sie alles für mich im Leben ist. Ohne sie fühle ich jede Stunde, jede Sekunde eine Leere in mir, mein Kopf hämmert

gefangen in der Gewalt, sie endgültig verloren zu haben und meinen Magen befallen Krämpfe, als hätte ich einen

Fastenmarathon hinter mir. Wobei mir auch tatsächlich jeglicher Appetit vergangen ist und ich mich zwingen muss,

wenigstens mein Abendbrot nicht ausfallen zu lassen.

Hat ihn ja schlimm getroffen den armen Michael, registriere ich mit einem Anflug des Mitgefühl und versuche ihn

gleichzeitig tröstend aufzurichten, dass in ein paar Wochen die Welt schon wieder viel freundlicher aussehen wird.

Gleichzeitig weiß ich, wie hohl und unnütz ihm solche Aussichten im Moment erscheinen. Sein Körper beißt sich in den

Schmerz und seine Gedanken krallen sich in die Hoffnung der Umkehr. Trotzdem blickt er mich dankbar an und

gesteht, wie hin und her gerissen er von seinen Gefühlen wird. Zum einen verdammt er seine Ex aufs Bitterste, um so

gleich an dem Glauben des Sichwiedervereinens festzuhalten. Weißt du, erklärt er mir, am Liebsten liege ich im dunklen

Zimmer und stelle mir vor, dass ich von Halluzinationen umgeben bin und ich bräuchte nur die Tür aufzustoßen, um

alles wie gehabt auferstehen zu lassen.

Ich kann dich gut verstehen, versuche ich seinen ergebnislosen Phantastereien Einhalt zu gebieten, aber du musst dich

davon befreien, dich davon lösen, es könnte mit ihr noch einmal so sein wie es war. Je eher du die Illusionen

abschüttelst, um so besser für dich und die Chance eines aufrichtigen Neubeginns. Bei mir musste ich diese Phase auch

erst durchleiden, bevor ich überhaupt bereit war, die Ursachen auf beiden Partnerseiten zu ergründen. Da findest du

auf jeder Seite etwas, nur jeder definiert den Schweregrad und die Konsequenz, die er daraus ableitet anders. Das mag

ja sein erwidert Michael lebhaft, aber ich kann beim besten Willen nicht einsehen, wo mein schwerwiegender Fehler

verankert sein soll, der sie ohne den Grund einer anderen Liebe verfallen zu sein, davon getrieben hat. Viel eher bin ich

zu der Überzeugung gelangt, dass Frauen die letzte Offenheit und Aufrichtigkeit vermeiden. Vehement setzt er seine

absoluten Frauenurteile fort. Sie scheuen nicht davor zurück zu taktieren, hinzuhalten, verwenden Nebensächlichkeiten

zur eigenen Gewissensberuhigung oder flüchten in ein tödliches Verstummen. Ganz schön starker Tobak, denke ich und

ungebremst fällt er weitere Klischees, die sich in ihm, als Reaktion auf seine persönliche Katastrophe festgesetzt haben.

Frauen denken in Schemata, sie ordnen unflexibel in Kategorien ein, dass heißt sie verallgemeinern vorschnell und

erkennen Abweichungen nicht an bzw. wollen nicht daran glauben, dass Eingruppierungen nicht immer passen.

Bevor der Gute sich ganz festrennt, bemühe ich mich einzulenken und werfe Fragen auf, die ihn von seinem Gleis auch

die Weichen erkennen lassen sollen. Ob er tatsächlich daran glaube mit Pauschalisierungen der Problemlösung näher

zu kommen, möchte ich von ihm wissen. Denn nach meiner Erfahrung setze ich Michael auseinander, gibt es keine

wesentlichen Unterschiede im Verhalten und Denken zwischen den Geschlechtern.

Nun bringe ich ihn aber richtig in Fahrt. Das sehe ich ganz anders, belehrt er mich über meine nette, aber naive

Frauenvorstellung. Seine Ramona hat ihn gelehrt, dass Frauen letztendlich doch oberflächlich diskutieren und nicht

bereit sind ernsthaft Partnerschaftskonflikte auszutragen. Besonders grämt er sich darüber, dass sie sich nicht davor

scheuen, männliche Tiefgründigkeit und Ehrlichkeit zu verspotten.

Mein Blick schweift über die penible, männliche Verwaltung des Küchenreiches und ich kann mir gut vorstellen, wie er

hier erfolglos vor Ramona gestikuliert hat und sicher nicht verstehen konnte, dass gerade diese Makellosigkeit der

zündende Faktor für die Trennung gewesen sein kann.

Mit einem Lachen starte ich den Versuch, ihn aus der erhitzten Argumentation zu erlösen. Weißt du Michael, wenn du

dir mal die Folgen von Sex and the City angeschaut hast, dann ist dir als Mann überhaupt nicht mehr klar, was du vom

anderen Geschlecht halten sollst. Da bleibt nur noch das Staunen, ob du in deinem ganzen bisherigen Leben etwas

verschlafen hast. Aber im Ernst, dort wird der Lustgedanke der Frau zwar übertrieben dargestellt und einseitig fixiert,

aber es ist natürlich was dran, an diesen Bauchgefühlen. Ich glaube auch nicht, dass die Gedankenwelt der Überzahl

der Frauen so von dem einen Thema dominiert wird. Es muss doch auch noch normale Exemplare geben.

Inzwischen lassen wir uns seine köstliche, fruchtige Nachspeise garniert mit Nüssen munden und Michael ist wieder in

seine sanfte Art zurück gefallen. Ich weiß ja, dass ich da durch muss und dass ich eines Tages den nötigen Anstand

haben werde, um wieder normaler zu leben, aber ob ich je wieder Vertrauen aufbauen kann, halte ich für sehr

zweifelhaft, bemüht er sich das Thema abzurunden.

Ich lege den Löffel beiseite und mit einem lauten Mm bekunde ich ihm mein kulinarisches Wohlbefinden. Das kann ich

gut nachvollziehen, möchte ich mich so gleich verstärkend in seine Entspannungsphase einklinken. Michael überleg

mal, du lernst neue Frauen kennen, sie werden sehr rasch deine Vorzüge einen Haushalt und das Leben wohl

geordnet und exakt im Griff zu haben, bemerken. Denn geh doch nicht davon aus, dass es überall so ist, dass gerade

dort ein schwer verständlicher Knackpunkt wurzelt.

Die weibliche Psyche ist abenteuerlich geworden, nach den Jahrhunderten der Zurückhaltung fühlen sie sich in der

Ordnung eines Mister Perfekt eingeengt. Dafür mögen sie dich zwar, sind aber in der Klemme, dir nicht mit aller

Offenheit ihre für sie selbst nur schwer formulierbaren Wünsche zu offenbaren. Uns erscheint dieses Ausweichen, als

unehrlich und egozentrisch. Aber Toleranz erstreckt sich nun mal in seiner ganzen Breite bis zu dem, dass jeder, so

lange er nicht auf anderen herum trampelt, nach seinen Belieben verfahren kann.

Ein Blick auf seine blitzende Küchenuhr verrät mir, dass es schon später geworden ist, als ich ursprünglich bleiben

wollte. Wie um unsere kameradschaftliche Debatte abzuschließen, empfehle ich Michael beim Hinausgehen, die

wichtigste Voraussetzung, um sich aus den verzagenden Gedanken zu befreien, ist, dass man lernt, sich selbst die

richtigen Fragen zu stellen.

Danke, dass du gekommen bist, verabschiedet mich der aufgekratzte Michael. Wenn es dir wieder mal passt, koche

ich gern für dich und kann dann vielleicht schon Schmerzensfortschritte aufweisen. Sehr gut schmunzele ich, dann bis

Montag in alter Frische.

Wieder so eine unpassende Redewendung denke ich noch, als ich bereits die Gartensiedlung erreicht habe. Vor der

kleinen Gartenkneipe sieht die Bankreihe so einladend aus, dass ich mich, als Nachspann des intensiven Gespräches

mit Michael gern niederlasse. Mein weiterer Tagesplan ist durch das lange Verweilen bei Michael eh hinfällig geworden.

Anstatt im IrishPub Livemusik zu erleben, wärme ich mich eben hier in der nikotinfreien Natur.

Während ich auf meinen halben Liter Schwarzbier warte, beobachte ich drei Teenagermädchen, die aus dem Kichern

nicht herauskommen. Auffällig hantieren sie mit ihren Handys herum und ich kann nur in Wortfetzen vernehmen, wie sie

sich scheinbar über eine MMS, nach meinem neuesten Kenntnisstand ist das eine Bildmitteilung, amüsieren. Der Wind

weht jetzt in meine Richtung und sehr deutlich dringt ihr Schnattern zu mir. Sieht er nicht ulkig aus mit seinen

Glupschaugen und den Segelfliegerohren necken Zwei von ihnen die Dritte, die vorerst pikiert darüber ist, aber dann in

das alberne Gelache einstimmt. Würde das jetzt der arme Michael miterleben, dann wüsste er gleich, wie grausam die

Frauenwelt sein kann und selbst die Betroffene durch die Solidarität der anderen mitgezogen wird.

Natürlich überbewerte ich den mädchenhaften Übermut nicht, denn umgekehrt haben wir als Bengels auch unsere Zoten

über Brüste, Pickel und Zahnspangen gerissen. Aus beiden Verhaltensweisen sollte ich wohl schließen, dass es

zwischen Mädchen und Jungen und zwischen Frauen und Männern keine Unterschiede herauszustellen gibt. Einzig

tritt ein Problem auf, dass Männer lernen müssen, damit zurecht zu kommen, dass Frauen

ihre Freiheit genauso selbstverständlich in Anspruch nehmen wie die jahrhundertlang verwöhnten Penisträger.

Konfliktbereinigung ist idealer Weise nur dadurch zu erreichen, dass beide Partner fähig und Willens sind, sich

miteinander auszutauschen ohne dabei etwas zu zerreden. Schöne Wunschvorstellung, die mir die heiße Sonne ins

Gesicht suggeriert.

Nachdenklich betrachte ich meine Handinnenfläche und rätsele über den Linienverlauf. Ob er mir Auskunft geben kann

über die ernsthaften Problemlösungen, die das Erwachsensein mit sich bringen? Bedeuten parallele Linien Stabilität,

führen leicht Fallende in eine Krise und besteht große Hoffnung, wenn ich auf die Mittlere mit ihrem gebogenen Lauf

nach Oben vertraue?

 

 

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