Wieder einmal will die Zeit nicht vergehen. Nicht nur, dass die vorweihnachtliche Stimmung überschattet ist durch eine
lustlose Wetterlage, ohne Atmosphäre schaffende Kälte und seelenreinigenden Schnee, nun warte ich auch noch auf
meine liebste Abwechslung.
Aber Diana lässt sich Zeit die Kinder vorbei zubringen. Dabei sind Karoline und Hugo sicher schon ebenso ungeduldig wie
ihr alter Dad. Bestimmt ist sie mit den Kindern beim Einkaufsbummel hängen geblieben, wo mehr ihre eigen Bedürfnisse
anstehen, als ein kindgerechter Umgang. Nur ein liebender Mann hat Verständnis für die Modelust seines Weibchen und
nimmt erduldend die Schaufensterauslagen und ständigen Kabinenwechsel auf sich. Die Kinder stellt sie mit Eis oder
süßen Verlockungen phasenweise ruhig. Viel lieber würden sie die Geschäfte belagern, wo ihre Sehnsüchte geweckt
werden. Mit Karoline könnte ich ewig im Musikhandel, die Kopfhörer übergestülpt eine Scheibe nach der anderen
durchklickend, aushalten. Dabei würden wir verschwörerisch und mit Kennerblicken sowie einer laienhaften
Gebärdensprache lobende als auch vernichtende Kritik zu den Stars austauschen. Hugo müssten wir vorher allerdings
vor einem Fahrsimulator platzieren und könnten bedenkenlos jede Mahlzeit an ihm vorüber gehen lassen. Ansonsten ist
unser kleiner Pummel bei fast keiner Speise zu bremsen. Am meisten mag er Kartoffelbrei mit ganz vielen kleinen
Klopsen und obendrauf verziert mit Ketchup-türmchen. Wie ein Alter stöhnt er, nachdem nichts mehr ins sein
Trommelbäuchlein hineinzupassen scheint, herrlich, ich könnte darin baden.
Wie die Jahre ohne sie vergangen sind. Mein eigenes Spiegelbild spricht nicht so deutlich zu mir, wie der vorbeiziehende
Bilderzug meiner Rackerchen. Nicht Bedauern legt sich auf mein Gemüt, denn Schicksal ummantelt den weichen Kern
mit Einsicht und Verständnis. Auch ohne einen himmlischen Glauben, kann gütliche Toleranz ihre Bahn ziehen und erst
in Extremsituationen ihre Beständigkeit standhaft unter Beweis stellen. Die vielen Jahre und Lebenseinflüsse, die dazu
notwendig waren, die Schritte in eine weisere, befriedigendere Richtung zu lenken. Mit der Stille kommt die ureigene
Freude auf, diesen Zustand mit den Jahren noch wachsen zu sehen und kein Bangen vor dem Kommenden zu haben,
auch wenn nicht alle offenen Lebensvorstellungen wahr werden können.
Endlich unterbricht meinen Tiefsinn ein stürmisches Klingeln. Sie sind eben doch noch halbe Kinder und lucken erst
vorsichtig an der Schwelle des Großwerdens. Jeder will hochgehoben werden. Hugo mit seinen zwei Jahren weniger
nimmt sich immer noch das Vorrecht Vorzudrängeln heraus. Wie klug meine Karoline unsere Szene beobachtet, wenn
ich über Hugos Schulter ihren grün dahinfließenden Augen begegne und schon die Lust in mir aufsteigt, ihre
Samtwangen zu kuscheln, um so gleich ihr geflötetes Hallo Papilein in meinen Ohren zu vergraben. Im Nu sind sie auch
schon vorbei geflitzt, um meine angekündigte Überraschung zu inspizieren. Da stehen beide zaghaft vor dem Teleskop
und wagen sich nicht, es zu berühren oder gar durch zu blinzeln. Ich hatte es vorerst in ihrem Besucherkinderzimmer
montiert. Denn vor dem eigentlich Betrachten der Himmelsvielfalt, fordert der alte Daddy die Geduld der Beiden heraus,
sich erst einmal die Begleitbücher zur Vorbereitung, wenigstens durchzublättern. Da stoße ich natürlich auf wenig
Gegenliebe und hilfreich ist nur das Argument, dass es zirka in zwei Stunden bei Einbruch der Dunkelheit Sinn macht,
mit dem Teleskop auf der Terrasse die Beobachtung zu beginnen. Ich kann mich noch gut an meine Aufgewühltheit als
Kind erinnern , wenn ich wusste oder ahnte, dass hinter der verschlossenen Tür die Eisbahn aufgebaut wurde. Oh
Großvater und Vater blieben lange weg und kamen jedes Mal lebhaft diskutierend aus der sich schnell wieder
schließenden Tür. Und wie groß ich die Bahn immer im Gedächtnis hatte. Man kam kaum um sie herum, ohne den
Wänden oder anderen Möbeln ausweichen zu müssen. Meine Montage war dagegen ein Kinderspiel, auch wenn ich
mich wie bei jeder Anleitung in leisen Beschimpfungen auf die praxisfremden Hersteller selbst beruhigen und motivieren
musste. Das sind so die Rückfälle des weiser werdenden Schicksalsmenschen.
Ach für die Kinder braucht man einfach die Auffrischung des Temperaments, wie sollte es mir sonst gelingen, in die
Kinderrolle hinein zu schlüpfen. Selbst streng erzogen, kommt immer wieder die Erwägung hoch, bist du zu locker,
wenn es z.B. frei und lustig ohne alle Kniggevorgaben am Tisch zu geht. Ein Für und Wieder ist für alles zur Hand.
Bestimmt glauben Unzählige die richtige Mischung anzusetzen. Mir ist es schon Trost, wenn ich noch darüber
nachdenke und auch Grübeleien akzeptiert werden.
Nun haben wir schon eine Menge durchgeblättert und eine wage Ahnung, wie unermesslich allein das Sonnensystem
mit seinen so unterschiedlichen Planetenabbildungen ist. Hugo kann nicht genug plaudern und ohne jegliche
Konzentrationsgabe platzen die ulkigsten Fragen dazwischen . Obwohl Karoline tapfere Vernünftigkeit an den Tag legt
und Seite für Seite umschlägt, muss Hugo beim Anblick des Saturns mit seinem imposanten Kugelkranz, seine Neugier
ungebremst herauslassen. Er entreißt Karo das Heftchen und schon beginnt der Sturm der wüsten, gegenseitigen
Beschimpfungen, was wieder einmal mit meiner Friedens-richterrolle enden muss. Was hat man da nicht alles an halb
geweinten Anschuldigungen des jeweilig anderen zu schlichten. Hugos du dumme Kuh ist der versöhnliche Abschluss
vor dem Beginn einer kurzen Harmoniephase. Da kann auch Karo mit ihren zwölf Jährchen nicht der überlegen Rolle
gerecht werden. Für mich selbst hoffe ich nur, dass die gepredigten Aussöhnungsworte im Hinterstübchen der beiden
haften bleiben und spätere Früchte tragen.
Inzwischen haben wir uns doch ganz gut eingelesen und auch das Schälchen mit Gummibären trägt wesentlich zu
Beruhigung bei. Besondern Gefallen finden die Beiden an den antiken Geschichten, die es zu jedem Sternbild gibt. Die
vielen Fragen zum historischen Hintergrund, bringen mich ins Schwitzen und machen eine eigene Wissensrückblende
unumgänglich. So kann nur meine eigene Phantasie Brücken bauen und Karoline flüstert, wie früher deine Gute Nacht
Geschichten Papi. Weißt du noch die, als der Teddy in der Kaufhalle keinen Honig fand und dafür unbedingt eine
Rollerklingel bei der Puppenmutti Susi erbetteln wollte. Kann mich selbst kaum erinnern, nur daran wie ich selbst
Entspannung beim Erfinden und auf dem schmalen Grad den Faden nicht zu verlieren, die nicht müde werdenden
Kinderaugen als Belebung empfand. Ein Abschnitt der nicht wiederkehrt und so manches Anekdötchen wäre
aufbewahrenswert gewesen. Noch einmal die Gelegenheit und die Einfälle für Enkelkinder geschenkt zu bekommen ist
ungewiss, aber kein sentimentales Gedankenspiel.
Hugo kann es nicht lassen mit seinem Bein ständig an den Teleskopständer zu baumeln. Es soll endlich los gehen. Sein
Optimismus alles in der Dunkelheit so am Himmel vorzufinden, wie in den Abbildungen, ist unerschütterlich. Vorsichtig
versuche ich anzudeuten, dass nicht jeder Tag bzw. jede Nacht immer die idealen Voraussetzungen bietet. Ungläubig
dreht er das Okular in seine Richtung, taucht darin ein und kommt nicht wieder. Erstaunt sehen Karo und ich, wie Hugo
minutenlang unbeweglich hinter dem Teleskop hockt.
Hurra schreit es auf einmal und mit seiner sich überschlagenden Stimme teilt er uns schwer verständlich mit, dass er
etwas entdeckt hätte, was sich bewegt. Gespannt versuchen wir nacheinander seine Entdeckung zu wiederholen. Erst
Karo ohne Erfolg und dann kann ich mit Mühe etwas hell Blinkendes ausmachen. Als ich den beiden erkläre, dass es sich
nur um ein Flugzeug handeln kann, scheint bei beiden eine kurze Ernüchterung einzutreten. Aber sofort begreift Hugo,
dass es mit dem Teleskop nicht nur möglich ist Sterne zu beobachten. Fein, dann kann ich auch in Häuser schauen oder
auf den Sportplatz oder wie die Züge hinter der Brücke entschwinden. Ja mein Großer man kann auch ganz normale
Dinge damit genauer betrachten. Aber heute wollen wir das alles nicht mehr so ausführlich überlegen. Es ist nicht nur
tief schwarz draußen geworden, sondern auch Zeit für das Bett . Diesmal haben es beide eilig die Badezimmerprozedur
zu absolvieren und auch ich werde mit einem kurzen Gute Nacht Kuss abgespeist. Deshalb kann ich es mir nicht
verkneifen noch an der Tür stehend zu lauschen, wie sie sich wispernd über die Möglichkeiten des Teleskops
austauschen. Zu unterschiedlich sind die Phantasien und Wünsche, was man nun endlich mal gründlich in Augenschein
nehmen möchte und schon zu lange an der Neugier nagt.
Karoline, die selbst schon 6 Jahre in den Übungen steckt, möchte stundenlang in die Gesichter der Balletttänzerinnen
schauen, um auch das winzigste Anzeichen der Anstrengung zu regestrieren. Sie ist jedes Mal nach dem Besuch einer
Aufführung erstaunt, wie leicht und mit welchem unverkrampften Lächeln die Tänzerinnen den ganzen Abend über die
Bühne schweben. Wenn sie dann an ihre eigenen Versuche denkt, gelingt es ihr oft nicht, die Anstrengung und auch
Schmerzen zu überspielen. Dabei liebt sie nichts mehr und kann sich nicht vorstellen eine andere Beschäftigung könnte
sie einmal stärker interessieren und begeistern.
Hugo hört Karoline diesmal geduldig zu und ist schon ganz verträumt in seinen eigenen Gedanken, stundenlang
Bungeespringer auf und nieder federn zu sehen. Zu gern möchte er durch das vergrößernde Teleskop erkennen, wie
dünn das Gummiseil bei seiner längsten Streckung wird. Wird es vielleicht so dünn wie ein Haar, um dann welch ein
Wunder, sofort zurück zu schnellen und wieder an Kraft zu gewinnen. Ich kann mich noch gut an Paris erinnern. Es
waren gerade die Anstreicher am Eifelturm zu Werke. Wie lustiger Baumbehang schaukelten sie in der Höhe
bewaffnet mit Eimer und Pinsel. Hugo damals noch ein Winzling hätte unseren Aufenthalt am liebsten auf das
Bestaunen dieser waghalsigen Arbeit reduziert. Zum Glück hatten wir uns noch den Disney-Park vorgenommen und die
Aussicht darauf hielt ihn dann doch davon ab, sein Bett unter dem Turm aufstellen zu wollen. Trotz vielen vergeblichen
Flehens und der Einsicht, dass er nun doch noch zu klein zum Bungeespringen sei, möchte Hugo seinen Hunger zu
mindestens damit stillen, sich vorzustellen, er wäre selbst angebunden und schnipste so schnell hoch und runter, dass
kein Mensch und vor allem kein Lehrer ihn je erreichen könnte.
Am Fenster stehend erblicke ich mit Bewunderung, dass der Himmel sich von seinem Behang befreit hat und ein
entzückendes Sternenkleid präsentiert. Karo nannte es früher immer Glitzersteine. Wobei sie das G am Anfang
verschluckte und wir jedes Mal köstlich amüsiert waren über diesen niedlichen Lispler. Zur Aufklärung des Kindes wurde
daraus eine Bildungsreise, dass die Glitzersteine eigentlich Diamanten genannt werden und von weit her kommen. Ganz
ungläubig nahm sie unsere Erklärung auf, dass man erst ganz tief, meistens an den Küsten durch den Sand graben
muss, um die Diamanten, noch tiefer liegend als das riesige Meer, heraufholen zu können. Wie sollte sie dies auch
glauben können, wo sie die funkelnden Steinchen gerade erst unvorstellbar weit oben am Himmel hat tanzen sehen.
Mit ihren gerade erst vier Jahren war sie sich sehr gewiss, eines Tages eine Prinzessin sein zu können. Wir bräuchten
ja nur die alte Gartenleiter in den Himmel stellen und wenigstens ein paar von den Glitzersteinen oder na ja eben den
Edelsteinen zu pflücken. Sie würde diese Schätze sofort in ihre Geheimschatulle verstauen, in der bereits alles
Kostbare, die Muschel aus dem Urlaub mit den purzelnden Wellen, das Löckchen ihrer ersten Puppe oder das
Kettchen mit dem Delphineanhänger, aufbewahrt wird. Jedenfalls wäre sie dann so reich, um alles auf der Welt kaufen
zu können und viele Menschen würden zu ihren Feiern aus allen Ländern geströmt kommen und nur sie bestaunen und
lieb haben wollen.
Gar nicht so einfach den Kindertraum nicht platzen zu lassen. Aber wie sollte die gute, alte Leiter auch bis in den
Himmel nach ganz oben ragen können. Da lehnt sie nun fast ebenso alt und knorrig an dem Birnbaum mit seinen
saftigen Früchten und der Efeu umschlingt beide wie ein unzertrennliches Paar, welches alle Freuden und Leiden der
Zeit gemeinsam überstanden hat.
Es ist kalt geworden, die ersten Eisblumen verzieren den Fensterrand. Da gerate auch ich ins Schwärmen und eine
wohlige Freude überzieht mich, als ich den mittlerweile eingeschlafenen Lieblingen noch mal über die Augenlieder und
Öhrchen streiche. Karo hatte dies in ihrer Phase, als sie selbst nur krabbeln konnte, Nacht für Nacht mit einem
charmanten, unwiderstehbaren Kulleraugenblick unablässig herausgefordert.
Hier im dunklen Zimmer den Blick nicht vom Phantasiehimmel lassen könnend, beginne auch ich das Teleskop für meine
Halluzinationen zu missbrauchen. Ähnlich dem freien Fall von Pech- und Goldmarie, lande ich in einem Meer von
Schmetterlingen in den unvorstellbarsten Farbzusammenstellungen und Körpernuancen. Wie um mein unfassbares
Gefallen ins Unendliche zu steigern, setzt sich ein Prachtexemplar nach dem anderen auf meine Linse, verwöhnt mich
mit einem sanften Flügelschlag und gibt mir durch das Vibrieren der zarten Fühler zu verstehen, na bin ich nicht der
Schönste. Um den Übermut noch weiter anzutreiben, segelt plötzlich ein pur pur roter Frechling direkt auf meine
Nasenspitze und killert mich mit seinem schlanken, lang gestreckten Abdomen. Lilienthal würde beim Anblick des
millionenfachen, majestätischen Flügelschlages neidvoll erblassen. Betäubt von der Feingliedrigkeit und der Opium
spendenden Farbgewalt, entschwindet mir das Teleskop aus den Händen und ich sinke auf die Wiese nieder. Wie durch
eine Nebelwand höre ich ihren vielstimmigen Chor.
Wir sind die Engel des Lebens.
Tragen Glück und Frosinn dir zu.
Posaunen die Botschaft des Himmels heraus.
Ein Tanzen in Saus und Braus.
Auf unseren Flügeln steht die Antwort aller Fragen.
Kannst du es erahnen?
Ein schrilles Klingen reißt mich aus allem, was vergessen scheint. Wahrhaft der Weihnachtsmann steht vor der Tür.
Kein Baum geschmückt, kein Stille Nacht erklingt so steh ich da, ich träumender Tor. Rute, du Unheilvolle, mein
Hinterteil ist so gleich für dich bereit.