Grölend zogen sie durch die mitternächtlichen Strassen des zwanzigtausend Seelenörtchen Burgfrieden. Was an
anderen Tagen eher einer Friedhofsstimmung gleicht, wird heute brutal von den Herren Kleinbauer, Winkelschmied und
Hupfmann bis an das Limit der kleinbürgerlichen Stadtgesetze missachtet. Dabei versucht jeder den anderen an
Lauteskraft zu überbieten und eigentlich ist die musikalische Einstimmigkeit schon längst in ein liederliches,
disharmonisches Lauteausstoßen übergegangen. Wenn Frau Brett, die Gattin des einzigen Stadtkonditors, wie immer an
ihren Gardinen vorbei geschielt hätte, wäre sie über die sich auf dem Marktplatz abspielende Szene sehr überrascht
gewesen. Nicht nur das Herr Winkelschmied begonnen hat sich tief über den barocken Marktplatzbrunnen, eine der
ehrwürdigsten und vorzeigbarsten Kleinode der Stadt, zu beugen. Nein auch vor einer Verunreinigung kann er ihn durch
den Ausbruch aus seinem immer schlaffer werdenden Mund nicht bewahren. Die anderen beiden sind in ein törichtes
Gelächter übergegangen und versuchen mit tollpatschigen Bewegungen den Erbrechenden vor dem vollständigen Fall in
den Brunnen zu retten.
Dieser Situation voran gegangen ist der Besuch im Stammlokal Zum Fürstenhof. Das entspricht der regelmäßigen
Tradition, jeden zweiten Mittwoch im Monat sich zum Stelldichein der Herrenriege einzufinden. Natürlich kann nur ein
ausgewählter Teil der männlichen Stadtbevölkerung Zugang dazu erhalten bzw. durch standesgemäße Empfehlung
eingegliedert werden. Normalerweise gab es während und nach der ausgelassenen Debattierrunde niemals
Vorkommnisse, die ein Stein des Anstoßes gewesen wären. Nur an diesem Abend wurden die gewöhnlichen Maßstäbe
überschritten. Dabei fing alles so harmlos an wie immer, einer trudelte nach dem anderen ein und die zehn Stammplätze
waren alsbald vollständig besetzt.
Huber, der Oberförster, gab wie immer seine Witze über die Frauenspersonen zum Besten und klopfte sich dabei am
kräftigsten auf die Schenkel. In dieser fröhlichen Stimmung hielten die Stammgäste urplötzlich inne, denn in der
geöffneten Gaststubentür konnten sie für Burgfrieden einen ungewöhnlichen Anblick wahrnehmen. Bequem in ihre
rustikalen mit Holzlehnen ausgestatteten Stühlen zurückgelehnt betrachteten sie mit den verschiedensten Mienen des
Erstaunens, der Missbilligung und des Unverständnisses die Eingetretenen. Es war ein Paar mittleren Alters. Ein Mann
in einem eleganten dunkelblauen Anzug und einem passenden Krempenhut. Er erinnerte unwillkürlich an den jungen
Humphrey Bogart. Seine Begleiterin stand ihm mit ihrer schlanken, wohl proportionierten Erscheinung in keiner Weise
nach. Einzig ihre dunkle Hautfarbe schien die Ursache für das stumme Maulaffenfeilhalten der hiesigen Herren zu sein.
Obwohl der neue Gast diese unangenehme Aufmerksamkeit spürte, zögerte er nur kurz, um sich sofort nach den
Wirtsleuten um zu sehen. Mit einem unverkrampften Guten Abend im nordischen Dialekt wandte er sich an die Wirtin,
Frau Tobler. Entgegen dem Erstarren ihrer Stammgäste fand Frau Tobler schnell die Fassung wieder und begleitete das
Paar auf dessen Bitte in eines der gemütlichen Pensionszimmer.
Nachdem die drei über die Treppe, die zu den Gästezimmern führt, verschwunden waren, begann die Wortlosigkeit der
Männerunde in eine unkoordinierte Meinungsäußerung überzugehen. Kleinbauer ein stämmiger, figurloser Mann, der im
Ort ein Drogeriegeschäft betreibt, bestellte lauthals eine Runde und höhnte auf die schwarze Braut. Vor allem Hupfmann
ein verarmter Bauer, der nur aus alter Familientradition Zugang zum Stammtisch erhalten hatte, pflichtete ihm
überschwänglich bei. Buchhändler, Geisel mahnte zur Sänftigung, dass trotz dieses einmaligen Stadtereignisses, die
Würde erhalten bleibe. Der größte Teil schwieg, wohl mehr deshalb, weil man nicht gewohnt war mit solchen spontanen
Situationen umzugehen. Inzwischen gesellte sich der Angriffslust von Kleinbauer und Hupfmann der ansonsten sehr
ruhige und bedächtige Apotheker, Winkelschmied dazu. Diese drei gewannen ein Meinungsübergewicht und steigerten
sich im Bewusstsein dessen, zu immer unflätigeren Bezeichnungen für anderes rassige Menschen. Der Wirt musste
entgegen sonstiger Trinkgewohnheiten in immer kürzeren Abständen nachschenken, wodurch sich die Aufgeregtheit
der Runde weiter steigerte. Immer wieder heizten die drei Scharfmacher das Meinungsbild an und steigerten sich
dahingehend, dass solche Fremden keine Zutritt in Burgfrieden bekommen dürften. Frau Tobler war inzwischen
zurückgekehrt und konnte die Lage am Stammtisch recht klar erfassen. Sie ist im Ort als couragierte Frau bei vielen sehr
beliebt und sie kann es auch diesmal nicht unterlassen, ihren Mann dazu anzuhalten doch für Mäßigung am Männertisch
einzutreten. Nur widerwillig begibt er sich in Richtung Tisch, als auf der Treppe das Gastpaar erscheint und einen Tisch
am anderen Ende der Gaststube einnimmt. Frau Tobler bemüht sich sofort um die Wünsche der Gäste, während am
Stammtisch wiederum völlige Stille eingetreten ist. Hupfmann kann das Funkeln in den Augen von Kleinbauer erkennen
und mit unterwürfigen Ton, so das es im gesamten Raum verstanden werden kann, fragt er ihn, kannst du es auch
riechen. Worauf Kleinbauer unverständlich stutzt und zurück fragt was. Mit einem Seitenblick zum Tisch des fremden
Paares gibt er ihm zu verstehen, was gemeint ist. Du hast recht, es kommt von da drüben. Kleinbauer erhebt sich und
geht bedächtig und provozierend auf den Tisch zu. Mit einem breiten Grinsen postiert er sich vor dem hübsch
anzusehenden Paar und höhnt erneut, jetzt rieche ich es auch. Ohne zu fragen, lässt er sich auf einen Stuhl am Tisch
fallen, beugt sich in Richtung der schwarzen Schönheit und ergänzt seine Worte, es stinkt, merkt ihr es auch. Am
Stammtisch werden erste unsichere Blicke gewechselt und Herr Geisel stottert, es ist spät geworden, meine Else wird
warten. Einige andere folgen ihm, greifen hastig nach ihren Mänteln und eilen grußlos zum Ausgang. Nun haben sich
auch noch Winkelschmied und Hupfmann ungebeten am Tisch des Gästepaares platziert. Allen dreien ist der
übermäßige Alkoholgenuss, die Frau dreht sich schon leicht zur Seite, deutlich anzumerken. Als der Herr darum bittet
ungestört auf ihr Abendessen warten zu können, entlädt sich die Aggressivität des Dreigestirns mit voller Wucht.
Kleinbauer fährt die beiden an, was sie sich einbilden in diese, ihre saubere Stadt einzudringen, wo Anstand und
Ordnung oberstes Gebot ist und keine ausländische Hurerei geduldet wird. Die beiden anderen scheinen bereit hilfreich
aufzuspringen und würden die schwarze Schlampe am liebsten gleich aus dem Ort schleifen. Da tritt Frau Tobler
dazwischen und bittet die Gäste nach oben, weil ihr Essen bereits dort serviert ist. Im Moment sind die drei perplex und
können den Gehenden nur noch wütend nachrufen, wenn ihr morgen nicht verschwunden seit, werden wir dem nach
helfen.
Während die drei siegestrunken vom Markt weiter nach Hause torkelten und sich beim Abschied gemeinsame Rache
schworen, ist Frau Tobler die Einzige im Ort, die mit ernster Besorgnis dem Kommenden entgegenschaut. Und dies tut
sie nicht nur, weil sie sich als Wirtin verpflichtet fühlt, sondern weil sie eine Grundhaltung vertritt, die Gemeinheiten
gegenüber anderen verabscheut. Aufgewachsen in einer Musikerfamilie sind ihr Dinge wie Menschenverachtung oder
Unterdrückung Schwächerer fremd. Im Gegenteil wurde sie frühzeitig daran geführt, keine Unterschiede zwischen den
Menschen aufzubauen und eher hilfreich gegenüber Bedürftigen die Hand auszustrecken. In ihr Nachdenken über die
eskaladierte Situation kann sie ihren Mann nicht mit einbeziehen. Dieser verkriecht sich lieber in seine heile Kellerwelt,
um ungestört an seinen Flugmodellen basteln zu können. Sie kennt Kleinbauer noch sehr genau aus der gemeinsamen
Schulzeit, um die Gefahr der Lage real einschätzen zu können. Schon damals als Junge waren seine Ansätze zum
Drangsalieren Schwächerer erkennbar. Dabei muss sie an eine alte Geschichte am Steinbruch denken, als sie
zusammen mit ihren besten Freundinnen, Ruth und Karin sowie dem kleinen Bruder von Ruth, der einen Sprachfehler
hatte, zum Baden fuhren. Andere Kinder hatten sich bereits unter den märchenhaften Birken ausgebreitet und andere
schossen von der kleinen Steinklippe unablässig in den klaren, moosgrünen See. Da nur noch wenig freie Wiesenfläche
unbelegt war, mussten sie sich dich neben die Decke der Jungs zu denen auch Kleinbauer gehörte setzen. Kleinbauer,
der bei jeder Gelegenheit vor den Mädchen zu prahlen begann, konnte es auch diesmal nicht unterlassen, seine
geschmacklosen Witzeleien, die die Mädchen eher anwiderten, heraus zu posaunen. Um so ärgerlicher war es ihm und
das noch im Beisein der Kameraden, die kalte Schulter gezeigt zu bekommen. Er sah den kleinen Bruder von Ruth am
Ufer spielen, schlenderte geradewegs auf ihn zu und zerstörte mit einem gezielten Tritt seine mühselig errichtete
Buddelei. Der Kleine in seiner maßlosen Gekränktheit weinte und stotterte Beschimpfungen auf den großen gemeinen
Kerl ein. Als wenn das Maß noch nicht voll wäre, geriet Kleinbauer in Rasche, griff den Burschen und schleifte ihn, ohne
dass dieser nach Luft schnappen konnte, durchs Wasser. Zum Glück sprang Rudolf, Geisels Sohn und wegen seiner
Sportlichkeit der Schwarm aller Weiblichkeit hinzu und verhinderte Ärgeres. Dieses Erlebnis ist fest bei Frau Tobler
haften geblieben und sie weiß heute, dass es auch leicht in einer Katastrophe hätte enden können. Um so ernsthafter
begreift sie, dass dieser Abend nicht nur ein vorübergehender Scherz war, sondern Schlimmeres verhindert werden
muss.
Einzig ihre alte Lehrerin, Frau Widlich, ist der Mensch, der ihr als Unterstützung gegen die ausgebrochene
Gewalttätigkeit einfällt. Schon immer hat sie zu dieser Frau aufgeblickt, die nicht nur Respekt einflössen konnte, sondern
bei der sie das Gefühl hatte, ja ich mache es auch so, weil sie Recht hat. Gleich am Morgen noch vor Schulbeginn
hastet sie zu dem ihr so lieben Schulgebäude. Zu gern bleibt sie, wenn sie mit dem Lieferwagen die Wocheneinkäufe
besorgt, vor dem Gebäude mit seinen Säulen und reichen Stuckverzierrungen stehen und wird an ihre einzige
Italienreise erinnert. Aber heute muss sie eilen, denn wenn sie erst den Rat und die Hilfe von Frau Widlich sicher hat,
wird sie die Last der schlaflosen Nacht erleichtern.
Frau Widlich hört ihr wie immer mit ihrem etwas zu strengen Gesichtsausdruck aufmerksam zu. Schon an ihren sich
verändernden Augen und den zu zucken anfangenden Ohren, dies passiert ihr jedes Mal, wenn sie sich in hoher
Anspannung befindet, verdeutlichen Frau Tobler, dass das geschätzte Räderwerk in Bewegung gekommen ist. Kaum
hat sie ihre Erklärungen beendet, kommt der spontane Gedankengang der alten Lehrerin, dass die Torheiten der Alten
durch ihre Nachkömmlinge besiegt werden müssen. Da sie eine Frau der Tat ohne große Umschweife ist, geht sie
geradewegs in ihre älteste Klasse, die sie heimlich die Musterschüler nennt. Nicht ohne Grund, denn bei ihnen ist der
Geist der Solidarität und Bekennung zu einer freien und gerechten Welt entgegen ihrem kleinbürgerlichen Zu Hause
angekommen. Ohne etwas zu Beschönigen oder Namen zu verschweigen, denn auch Kleinbauers Sohn Hans ist in
dieser Klasse, gibt sie mit ihren wohl gewählten und klaren Worten die Erklärung von Frau Tobler wieder. Noch bevor sie
enden kann, verspürt Frau Tobler, die mit anwesend sein darf, die Betroffenheit und Empörung in den Schülerreihen. Sie
halten es kaum aus und wollen voller Ungestüm ihren Protest bekunden. Sehr zufrieden ist Frau Widlich mit der Reaktion
ihrer Musterschüler. Dafür hat es sich gelohnt, dass sie weniger an ihr Privatleben gedacht hat und das persönliche Glück
wieder und wieder zurück stellte, wenn dadurch Generationen von Kindern den richtigen Weg gefunden haben. Am
hilfreichsten bei all dem Durcheinander an Willensbekundungen, ist die ehrliche und schwierige Position die Hans nicht
ohne belegte Stimme verkündet. Auch wenn es mein Vater ist, der hier die Grenzen des anständigen, menschlichen
Verhaltens überschreitet, werde ich nicht und ihr alle hoffentlich auch nicht, tatenlos zu sehen, wie völlig harmlose
Menschen verunglimpft, ja aus der Stadt vertrieben werden sollen.
Mit diesem Enthusiasmus ziehen sie schnurstracks an der Spitze Hans umrahmt von Frau Widlich und Tobler in Richtung
Drogerie. Als sie den Markt überqueren und die ersten Händler und einkaufenden Bürger erstaunt ihren Marsch
verfolgen, verbreitet sich rasch von den Frauen, die durch ihre ehrenwerten Männer bereits informiert wurden, die
Kunde vom gestrigen Geschehen im Fürstenhof. Ja es gibt sogar beifälliges Klatschen und die eine oder andere schließt
sich dieser guten Sache an. Jetzt sind sie fast an der Drogerie angekommen und können hinter dem Schaufenster
erkennen, wie Herr Kleinbauer vorsichtig hinter seiner Dekoration den Aufmarsch beobachtet. Neben ihm steht wie eine
Klette Herr Hupfmann, der dem Zug voraus geeilt ist, um seinen Gönner zu benachrichtigen. Auch Frau Kleinbauer
kommt, nachdem sie mit ihrer Cousine, die bereits vollständig unterrichtet war, telefoniert hatte, die Treppe herunter ins
Geschäft. Mit einer Entschlossenheit, die sie ihr ganzes Leben nicht hat aufbringen können, fährt sie ihren Gatten barsch
an, dass er nun die Suppe selbst wieder auslöffeln muss, in dem er hinaus geht und allen erklärt, sie mögen ihm
verzeihen und er wird ihnen versprechen, dass sich so etwas nie wieder wiederholen wird. Mit schlaffer Haltung verlässt
er den Laden und prallte gegen die Buhrufe der mittlerweile recht beträchtlichen Schar.
Mit Pfiffen und Jubel nimmt die Menge den Sieg auf. Ganz leise flüstert Frau Widlich ihrer früheren Schülerin ins Ohr,
dass solche wie Widlich sich nicht tatsächlich ändern und nur durch die Kraft Andersdenkender im Zaum gehalten
werden können, dabei schaut sie voller Stolz und Liebe auf ihre Klasse und alle, die durch sie mitgerissen wurden.