Ihr Lächeln ist das Schönste was Max in Erinnerung bleibt. Der Zug rattert hustend bei jeder überfahrenen Schwelle
dahin und entfernt ihn immer weiter und schneller von seinen glücklichsten Lebensjahren.
Kaum kann er die Silhouette von Petersburg noch erkennen und es beginnt die Reise zurück in seine
mecklenburgische Heimat. Dieses unermessliche Land mit seiner vielfältigen Natur lässt ihn die Augen offen halten,
obwohl er seit Nataschas Beerdigung vor zwei Tagen nicht geschlafen hat. Nur selten streift der dampfende Zug
entlegene Ortschaften. Auf den Bahnsteigen wirken die Anwohner wie Gestalten, die von einer Revolution, einem
Auf und Nieder der Sowjetstaaten und den von Korruption immer wieder zurückgeworfenen Reformversuchen des
an Kontrasten so reichen Russlands unbeteiligt geblieben sind.
Wie erstaunt war er dagegen, als er vor drei Jahren seiner Liebe nach Petersburg folgte und eine lebendige, offene
Stadt ihn empfing, die seinen Erwartungen völlig widersprach. Nicht finstere Gesichter in farbloser Bekleidung
bestätigten seine Befürchtungen, sondern eine farbenfreudige, gewagte Mode mit Menschen, die das Leben
genießen wollen und ihr Heim nicht zur Burg machen, steigerte den Genuss an seiner frischen Liebe.
Dabei hätte er es wissen müssen und seine Natascha nicht zum Einzelfall erklären dürfen. Aber wie konnte er auch
alte Vorstellungen ohne Selbsterlebtes über den Haufen werfen. Seine Betrachtung war doch auf Natascha als Frau
fokussiert.
Das erstemal begegnete er Natascha auf einem Wissenschaftsforum in Schwerin. Er erinnert sich an die damalige
Diskussionen zu den neuesten Erkenntnissen der Gentechnik zur Intensivierung der Getreideproduktion. Am Rande
der offiziellen Vorträge waren wie immer die nachfolgenden Gesprächsrunden am wertvollsten. Natascha eine
typisch russische Erscheinung mit ihren vollen Lippen, den großen strahlenden Augen und der fein geschnitten Nase
im ebenmäßigen Gesicht, in dem die Wangenknochen den erotischen Eindruck vervollkommneten, war sofort zu
einem Volltreffer seines noch unberührten Herzens geworden. Er stand in einer Gruppe mit anderen Wissenschaftlern
und drehte Natascha den Rücken zu, als er immer weniger die Worte in seiner Gruppe aufnahm, als dem weichen,
entzückenden Akzent im Rücken zu lauschen. Dabei kann er sich nicht mehr an den ernsten Inhalt erinnern, sondern
es kam ihm wie ein Flötenspiel im Gebrumm der ansonsten trockenen Kollegen vor. Bevor Natascha in ihrer Heimat
beruflich Fuß fasste, hatte sie ein Studium im Wissenschaftszentrum Dummersdorf absolviert. Daher auch der sichere
Umgang mit seiner Sprache und dem I-Tupfer des norddeutschen-russischen Dialekts.
Wenn er sein Ohr an die kalte Scheibe des Waggongs presst, glaubt er fast, ihre Stimme noch einmal vernehmen zu
können.
Später als sie sich besser kannten und nicht nur der Klang ihrer Stimme ihn verzauberte, sondern auch die fröhliche
Vernunft der jungen Wissenschaftlerin das Bedürfnis in ihm erweckte, möglichst oft mit Natascha zusammen zu sein,
entwickelte sich der fruchtbare Gedankenaustausch zwischen zwei harmonierenden Menschen.
Entgegen der Auffassung seines älteren Bruders, der die Möglichkeit ausschloss, dass die verschiedenen
Geschlechter sich auf Dauer verstehen könnten, war Max von solchem Pessimismus nicht befallen. Unbeschwert
nährten sich die beiden jungen Menschen, die beide bis dahin nur geringe Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht
hinter sich hatten. Max’s Jugendliebe, ein Mädchen aus der Nachbarklasse, kam ihm wie eine verblasste Erinnerung
vor und nur wage kann er sich an die nächtlichen bekleidungsfreien Badeabenteuer im pechschwarzen dunklen See
mit seiner romantisch glatten Wasseroberfläche entsinnen.
Wie viel reifer ist der Ideenaustausch mit Natascha. Natürlich nahm das Auskosten der Liebe, den größten Teil ihres
Zusammenseins ein. Aber wenn jeder befriedigt und glücklich auf einem Körperteil des anderen ausruhte, sannen sie
sehr wohl über den Sinn des Lebens, die Grauen und Schrecken auf dieser Erde und die Umweltängste auch für ihre
Wunschkinder nach. Erstaunt registrierten sie dabei wie selbstverständlich ihre übereinstimmenden Ansichten sich
trafen bzw. durch Unbekanntes aus der jeweiligen fremden Heimat ergänzt und befruchtet wurden. Sie waren sich
einig, dass im Mittelpunkt ihrer Bestrebungen nicht der materielle Erwerb steht, sondern die geistige Beschäftigung
und auch das Besinnen darauf, mit einfacheren Umständen zurecht kommen zu können ohne den Lebenswert zu
mindern.
So setzten sie ihre Beziehung auch über die große Entfernung beider Länder fort. Der elektro-nische Postweg, ihr
täglicher Begleiter, ermöglichte es ihnen, den Kontakt ununterbrochen fließen zu lassen. Nie hätte Max gedacht,
dass sein an Kürze und Nüchternheit gewöhnter Schreibstil, sich einmal auf die Beschreibung einfachster
Natureindrücke, glühender Liebessehnsucht und Zukunftsmalereien verbreitern würde.
Er nimmt behutsam den Abschiedsbrief seiner Liebsten aus der Jackentasche und bewundert erneut, mit welcher
Kraft Natascha ihr Schicksal ertrug und letztendlich den kurzen, erbitterten Kampf gegen die Leukämie doch
verlor.
Mein liebster Max,
dies werden die letzten Zeilen sein, die ich für dich aufs Papier flüstern kann. Das kurze
Leben mit dir war wie eine Ewigkeit und wunderschön. Keinen Augenblick möchte ich missen
und werde sie alle mit auf meine lange Reise nehmen. Wenn du an mich denkst, sei nicht un-
glücklich und denk nur an unsere gemeinsame Fröhlichkeit. Du bist noch so jung und darfst
dich nicht in den Kummer, den ich dir verbiete, vergraben. Ich weiß, auch wenn du ein neues
Glück erlebst, wird uns dies nicht entzweien.
An dieser Stelle unterbricht Max und kann nur mit Mühe seine Tränen unterdrücken. Wie kann er weiter froh
und unbeschwert sein, nach diesem unersetzlichen Verlust. Kann ein Mensch wahrhaft nur einmal tief und
leidenschaftlich empfinden und alles was dann folgt, muss den Tribut dafür bezahlen? Es ist eine junge
Frage für ihn, die er verdrängt und die ihn von seiner Trauer ablenkt. Max versucht in der Vergangenheit
Trost zu finden.
Das monotone Stoßen des Zugabteils erinnert ihn an eine gemeinsame Fahrt mit Natascha zu den
Naturschönheiten der Sächsischen Schweiz. Während ihrer ausgiebigen Wanderungen, folgten sie eng
umschlungen manchem einsamen Pfad, der sie zu den Naturwundern des Elbsandsteingebirges führte.
In ihrem Disput spielten sie mit pro und contra Argumenten, ob die bizarren Formen der Gesteinsbildung
nur ein Produkt der Natur sind oder menschlicher bzw. sogar himmlischer Gewalt bedurften. Das war das
erstemal, dass Natascha erkennen ließ, wie tief die Religion in ihrer Kindheit verwurzelt war. In der
dörflichen Gegend wo sie aufwuchs, gab der orthodoxe Priester ungeachtet der Zeitgeschichte nach wie vor
den Ton an. Im Schlepptau der Eltern und Großeltern musste auch Natascha diesem Weg folgen. Im
Nachhinein, als sie sich aus diesem einseitigen Bann lösen konnte, verurteilte sie die Entwicklung keineswegs.
Ihr fielen sehr viele menschliche Handlungsweisen ein, die durch den Umgang mit der Kirche gefördert und
entwickelt wurden. Natürlich kann sie heute auch die Grenzen dessen einschätzen. Wie starre, dogmatische
Vorgaben zur Entwicklungsbremse junger, aufgeschlossener Menschen werden können. Sie nannte ein
trauriges Beispiel von einer Katjuscha mit der sie im Kindesalter von früh bis spät die Dorfstrassen entlang lief
und die waldige Gegend durchstreifte. Der Vater des Mädchen starb frühzeitig durch einen Unfall beim Bäume
flössen. Durch diese Situation gezwungen, musste sie vorzeitig Geld verdienen und als Dienstmädchen im
Pfarrhaus ihre Jugend aufgeben. Katjuscha war eine begabte Tänzerin und hatte das Zeug und den Willen
mehr daraus zu machen. Anstatt im Ensemble der Kreisstadt weiter geformt zu werden, verlor sie durch die
harte Arbeit ihre Leichtigkeit und noch viel schlimmer ihre Zukunftsvorstellungen starben ab. Später als Natascha
zum Begräbnis ihrer Großmutter ins Dorf zurückkehrte, erkannte sie die ehemals schlanke und biegsame
Katjuscha nicht wieder. Pummelig war sie und ihr Gesichtausdruck hatte jegliche Lebendigkeit verloren. Sehr
traurig kam Natascha nicht nur wegen Großmutters Tod zurück, sondern die geistige und körperliche
Verkümmerung der alten Spielkameradin setze ihr noch lange zu.
Natascha war ein Gefühlsmensch. Karriere und Erfolgsbeifall waren ihr nicht wichtig. Zu oft hat Max sich selbst
überprüfen müssen, wenn er neidvoll Nataschas Vorsprung der Uneigen-nützigkeit anerkannte. Nicht nur in ihrer
Liebe war ihr jeglicher Egoismus fremd, nein auch andere Außenstehende lernten ihr selbstverständliches
Entgegenkommen und ihre unbekümmerte, selbstlose Unterstützung schätzen.
Max ist nun doch überanstrengt und mit Hilfe der stetigen, rollenden Zuggeräusche eingeschlummert. Es
dämmert bereits der Morgen und über dem Fluss, den sie auf einer hölzernen Brücke überqueren, ziehen
dicke Nebelschwaden heran. Da hilft es auch nicht, dass er die Scheibe mit seinem dicken Wollpullover,
den Natascha letzten Herbst aus heimischer Wolle für ihn gestrickt hat, kreisförmig abreibt. Das Triste
draußen und drinnen in seinem Herzen bleibt erhalten. Es ist nicht sentimental, wenn ihm nicht ein
negatives Ereignis mit seiner Natascha einfällt oder auch nur eine Verhaltensweise an ihr gewesen wäre,
die ihm missfallen hätte. Egal mit welcher Mimik oder Gestik Natascha das Leben meisterte, immer war
die rührende Lieblichkeit ihre Begleiterin. Ihre reife Gutherzigkeit lies sie nicht älter er-scheinen. Trotz
ihrer frischen, jugendlichen Schönheit strahlte sie auch für wesentlich ältere Menschen eine
unbestechliche Ruhe und Geborgenheit aus, auf die Max nicht ohne Egoismus sehr stolz war. Gerade
diese Art unaufdringlich, bescheiden das Leben anderer gut zu heißen oder auch in schweren Phasen
einfach teilnehmend zu begleiten, ist für Max eine Erkenntnis geworden, die er sich in seinem Land gar
nicht so verinnerlicht hat. Heute würde er genauestens sondieren nach ehrlicher Aufrichtigkeit und
denen, die sich in ihrer Pose nur selbst gefallen wollen oder noch schlimmer sie für andere zur Schau
stellen. Oberflächlichkeit und schauspielerisches Verhalten sind ihm so zu wieder geworden, dass er
sich nur mit einer für andere als hart erscheinenden Konsequenz schützen kann.
Max greift zu dem Brief, der während des Schlafens auf seinen Schoß hinab geglitten ist und beginnt
an irgendeiner Stelle fortzufahren.
Mein Liebester, solltest du doch einmal deine Traurigkeit nicht mehr halten können, so denk
einfach an einen der vielen gemeinsamen schönen Momente und stell dir vor, ich würde deine
Träumerei aus einer himmlischen Wolke begleiten. Vergessen werde ich nie, als wir zum erstenmal
unser Kleinvenedig, so nanntest du unser Petersburg immer, mit dem Ruderboot erkundeten. Es
war so lustig, wie du dich daran gewöhnen musstest, die Ruder auf beiden Seiten gleichmäßig
durchzuziehen und uns die Bootsprofis mit strengen Blicken abmahnten. Dabei sahst du mit deiner
Potjomkinmütze so keck und revolutionär aus. Endlich hatten wir dann doch noch einen Kanal
gefunden, der unserem romantischen Ausflug gerecht wurde und wir träumten von dem Glück
ohne Ende und vielen Kindern, die uns nicht nerven würden und ein Abbild unserer selbst
vorgaukelten. Ein schönes Spiel, als du mein Bild zum Vorschein brachtest und ich versuchte
meine Liebesvorstellungen von dir kundzutun.
Jede Einzelheit brach wieder aus Max heraus. Wie lustig Natascha strahlte als sie die
Matrosenmütze tauschten und sofort das alte Panzerkreuzerlied los schmetterte mit einem
zusammengezogen Gesicht, als trüge sie den dicken Schnauzer und buschige Augenbrauen, die
einfach dazugehören. Dabei balancierte sie auf der Balustrade am Kai mit ihren Stöckelschuhen,
wie ein aufgezogener Marschsoldat. Am Abend sangen sie nicht mehr, sondern lauschten den
altrussischen Gesängen an der Newa, die die geselligen Grüppchen von sich gaben. Es kann
einen doch nichts tiefer rühren als dieser schwermütige Gesang zur Balalaika, wenn dazu noch
aber Tausende Lichter sich im Flusswasser spiegeln und durch den Wirbel der Wasserkreisel mal
scharf und kontrastreich hervortreten, um bei der Konterbewegung sofort wie ein Zerrbild zu
zerreißen.
Das war auch der Abend als sie beschlossen, dass Max nicht nur besuchsweise kommen wollte,
den keiner von beiden hielt es ohne den anderen länger aus. Sie schworen sich eine dauerhafte
Lösung, egal was sich dadurch in ihrem Umfeld ändern musste und wollten in dieser historischen
Stadt ihr gemeinsames Leben richtig beginnen.
Ein halbes Jahre hat es noch gedauert bis alles organisiert war und er Natascha in der riesigen
Bahnhofshalle umarmen konnte, ohne an die Rückfahrkarte denken zu müssen. Was hat er in der
folgenden Zeit nicht alles erlebt, nicht nur mit seiner Natascha, sondern auch mit diesem Volk und
diesem städtischen Menschenschlag. Noch nie kam er sich so frei vor, kein Zwang auf jeden und
alles Rücksicht zu nehmen. Überlegungen einfach frei aussprechen zu können, ohne dem bitteren
Beigeschmack es nachgetragen zu bekommen. Nicht jede Diskussion war von höchstem Niveau,
aber durch ihre Unbeschwertheit förderlich neue Ideen entstehen zu lassen, nicht immer gleich
schreibreif, aber gut genug als keimende Basis.
Was erwartet ihn zu Haus, ist es überhaupt noch seine Heimat? Mit Natascha wäre er überall
heimisch geworden. Fährt er nicht in ein Land, in dem die aufrichtige Geselligkeit verlorengegangen
ist, wo falsche Leistungsziele den Blick für Kreativität und Wesentliches versperren. Er ist nicht nur
ein Nataschamensch geworden, sondern hat von diesem Wodkavolk mehr gelernt an Miteinander,
als der Verruf dies zu gibt.
Jeden Schritt den er jetzt geht, wird er in heimlicher Rücksprache mit Natascha abwägen, wie
sie handeln und was sie ihm raten würde. Schon der Gedanke an die Auswahl der Tagesgarderobe
wird für ihn zu einer empfindsamen Zerreißprobe, nicht mehr ihre geschmeidigen Finger zu
beobachten, wenn sie Stück für Stück dem Schrank entnimmt und behutsam für ihn auf dem
Waschmaschinendeckel ablegt. Selbst der bestätigende, liebevolle Blick nach dem
Anziehen, du siehst fabelhaft aus mein Liebster, wird ihn nicht mehr beim Hinausgehen begleiten.
Max erkennt die ersten heimatlichen Hügel und Seen. Schön und vertraut kommt es ihm nun wieder
vor. Was ist er in seiner Jugend zusammen mit seinen Kumpels nicht alles um diese Seenplatten herum
geradelt. Einfach nur das leichte, polnische Zweimannzelt und eine Schlafdecke auf dem Gepäckträger
haben sie an den Tagen mit simplen Stockangeln auf den vom Schilf verborgenen Stegen auf jeden
Biss geduldig gewartet und über ihre unreifen Lebensillusionen philosophiert. Am Abend wurden die
Lagerfeuer entfacht, Mücken vertrieben und mit den jungen Mädels der Dörfer angebändelt. Hätte er
sich damals schon erträumen
können, wie schön es mal mit Natascha sein würde, wäre er noch viel schneller und lieber erwachsen
geworden. Und doch ist da eine Sehnsucht, die ihn auch bei der Erinnerung an diese problemlose Zeit
befällt. Natascha würde ihm bestimmt raten und darin bestärken, sich auf die Jugenderlebnisse zurück
zu besinnen und erneut in der Stille der Natur Frische und Hoffnung zu tanken.
Inzwischen fährt der Zug vorbei führend an den fünf Seen in Schwerin ein. Max wählt nicht den Weg zum
Busbahnhof. An den Taxiständen vorbei schlendernd durchquert er die Fußgängerzone und strebt auf den
Schlosspark zu. Mühelos trägt er sein leichtes Gepäck, denn außer seinen wenigen persönlichen Sachen
und der Handvoll Erinnerungsfotos sowie Nataschas bernsteinernen Haarbürste hat er alles andere zurück
gelassen und an die guten Freunde verteilt. Ganz entspannt läuft er unter dem schattig angelegten
Laubengang auf das barocke Schloss zu, umkurvt es links, um sich oberhalb der Orangerie neben der
künstlichen steinernen Grotte auf einer der gusseisernen Bänke mit Seeblick niederzulassen. Früher hat
er bei diesem breiten, weitreichenden Blick immer die Vorstellung gehabt, so muss es am Lago Maggiore
sein.
Er lehnt sich zurück, streckt die Beine aus so weit es geht und lässt sich allein von den Sonnenstrahlen
verwöhnen. Es ist Mittagszeit und um diese Zeit, gehen die meisten ihrer Beschäftigung nach und die
die ansonsten mit ihren Hunden oder Schwanenfutter die regelmäßigen Parkbesucher sind, haben
bereits gewohnheitsgemäß den Mittagstisch gedeckt und gönnen dem einsamen Heimkehrer die Stille
in diesem reizvollen Ambiente.
Max spürt gar nicht, dass er ebenfalls Hunger haben müsste. Er empfindet es als zu wertvoll nach
dem eintönigen Zuggedröhne, Ruhe nur unterbrochen vom quirligen Vogelgezwitscher in sich aufnehmen
zu können.
Wiederum entfallet er den Abschiedbrief seiner Liebsten, um nochmals die Schlusszeilen zu lesen.
Alles was sie schreibt ist so klar und verständlich, aber sein schmerzendes Herz will nicht nur vernünftig
gehorchend begreifen. Nein er will das letzte Übriggebliebene nicht los lassen.
Max, du mein liebes Herz, nun spinne ich hier den Faden der Erinnerung und wollte dich doch lieber
auf die Bahn des Neuen führen. Ich weiß inzwischen zu deutlich wie kostbar die kurze Lebensspanne
ist und dass zwischen dem Geboren werden, dem Begreifen des Lebens und dem unbesiegbaren
Abschied aus der Rückbetrachtung einem nur winzige Augenblicke gegönnt werden. Lass dich noch
einmal küssen und versprich mir, dass du diesen Momenten nicht ausweichen wirst, wie könnte ich
ansonsten in Ruhe und Frieden von dir gehen. Pflanze unser Leben in einer anderen Hülle fort,
erzähle ihnen, wenn du magst von mir und unserem Glücklichsein.
So bald ich meine Augen für immer geschlossen habe, werde ich davon träumen, dass jeder gute
Tag für dich eine Blume auf meinem Erdhügel sprießen lassen wird. Du weißt ja wie sehr ich sie
mag, gib also dein Bestes.
Deine Natascha
Mitten beim Lesen steht Max auf, trottet mechanisch weiter und verfolgt tief versunken das Geschriebene.
Seine Schritte lenken ihn in die Richtung der elterlichen Wohnung. Als er vor dem Haus steht und noch
ebenso verträumt den Brief sorgfältig faltet und in seiner Jackentasche verschließt, zieht er an der
langen Eingangsglocke, ein Geschenk von ihm an seine Eltern zur Silberhochzeit, und ist nur noch
gespannt, wer die Tür öffnen wird.