Julia schaut unkonzentriert in den Spiegel und ist sich nicht im Klaren, ob denn nach zweiunddreißig Jahren die ersten
Schatten über ihr Gesicht huschen dürfen. Bedächtig reibt sie die feingliedrigen Händen, ihr kostbarstes Gut, denn als
Illustratorin ist sie nicht nur auf ihre geistreichen Einfälle angewiesen, sondern die erfahrene Motorik vom Handgelenk
bis in die Fingerspitzen ist unersetzlich. Danach überträgt sie die sanfte, betörende Salbung auf ihre schmalen
Wangenknochen. Dem Gesichtsteil welches ihre beste Freundin mal als die Erotik pur bezeichnet hat. Das sie bei dem
anderen Geschlecht nach wie vor gefragt ist, hat sich als Selbstverständlichkeit bei ihr eingestellt. Sie hat sich auch
noch nie mit der Frage beschäftigt, wie es für jemanden ist, einsam zu bleiben, nur weil man vielleicht nicht begehrt
wird oder wie eine Frau durch Nichtäußerlichkeiten Interesse erwecken kann. Warum sie es selbst noch nicht zu einer
längeren Bindung gebracht hat, ist für ihr Ich bisher ebenso wenig von Bedeutung gewesen.
Wenn im Kreis der Freundinnen über diesen immer wiederkehrenden Tiefgang diskutiert, spekuliert und phantasiert
wird, um des Pudels Kern zu ergründen, mag sie sich selbst nicht daran beteiligen, denn nichts ist ihr fremder als
Klischees zu bedienen. Was bin ich eigentlich für ein Weib oder bin ich einfach nur ein Mensch, der die
Geschlechtsspezifik nicht in den Vordergrund rückt, denkt sie, als ihre Augen das Abtasten der Gesichtpartien
fortsetzen. Da schauen mich nun meine strahlend blauen Augen an, die jeder Kerl gleich als die Gelegenheit benutzt,
um mir seine abgeleierten Komplimente ins Ohr zu schleimen. Einfach hat es die Männerwelt bei Julia nicht, denn
durch Worte, welche sie beim schweigenden Zuhören schnell als Gesülze abqualifiziert, gelingt es keinem, ihre
Neugier zu erwecken. Eher sind es Zufälle, ein versehentlicher Rempler am Fahrstuhl oder der hilflose Einkäufer im
Supermarkt, die ihre Augen, die sie sich doch selbst lieber in einem wärmenden, verträumten Braunton gewünscht
hätte, aufblinzeln lassen.
Na ja sinnt sie weiter, da kann ich meine Augen noch ewig umkreisen und außer dem angenehmen Massageeffekt
komme ich allerdings keinen Schritt weiter. Meine Haut ist doch mit einer unerschütterlichen Sanftheit und Weichheit
gesegnet, in die ich selbst ganz vernarrt bin, ist ihr nächster Gedanke, bevor sie die Korbtasche aus dem letzten
Kretaurlaub für die Sauna zusammen packt.
Einmal pro Woche gönnt sie sich diesen Luxus, denn mit ihrer Zeit kann sie nicht verschwenderisch umgehen. Zu
sehr stapeln sich die unfertigen Entwürfe und laufend spuckt ihr Faxgerät neue Aufträge der Agentur aus. Es
kommt ihr so vor, als ob die unersättlichen Auftraggeber es riechen könnten, wenn sie bis in die Nächte hinein
unter ihre Tischfunzel gebeugt, ein Bogen nach dem anderen skizziert oder mit Farbe betupft und den gierigen
Werbeschlund doch nicht randvoll füllen kann. Immer neue Anforderungen wollen ihre Möglichkeiten ausloten
und sie hat gar keine Zeit mehr nach einer bestandenen Etappe den Erfolg auszukosten.
Als sie mit ihrer Selbstständigkeit begann, ging es Julia nicht nur darum durch viele Auftragseingänge materiell
abgesichert zu sein, sondern ihr hungriger Ehrgeiz lechzte nach Herausforderung und Bestätigung durch
Außenstehende. Inzwischen glaubt sie nicht abgeklärt zu sein, aber sie stellt ihre Ansprüche auf ein realistisches
Fundament und entgegnet ihrer Freundin, wenn diese wieder mal übersteigert fragt, Julia wo sind deine Träume
geblieben? Es kann nicht ständig ein neues World Trade Centre errichtet werden, wichtiger ist es die Nachfrage
von Otto Normalverbrauer mit ansprechenden Entwürfen zu würzen.
Auf dem Weg zur Sauna oder besser der kleinen gestalteten Erholungslandschaft, die dazu gehört, schüttelt sie
ihre vorherigen Spiegelbetrachtungen ab, läuft die wenigen Strassen gedankenverloren, ohne wirklich auf die
anderen Passanten zu achten, entlang und erfreut sich jedes Mal, wenn sie an dem erst vor einem halben Jahr
nach langer aufwendiger Rekonstruktion fertiggestellten Bau aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts
angekommen ist. Wie immer muss sie über den eingemeißelten Spruch auf dem gewölbten Eingangsbogen,
Schau nicht nur auf deinen Körper – Schau auch hinein, lächeln. Die Entspannungsoase wird von zwei Frauen
im mittleren Alter geführt. Beide haben ihre Vorstellung verwirklicht, etwas speziell auf Frauen Zugeschnittenes
anzubieten und der Widerhall einer bereits stark angewachsenen Stammkundschaft gibt ihrem Gefühl, den
weiblichen Bedürfnissen nach zu kommen, recht. Auch Julia empfindet es als angenehm, die Erholung ungestört
vor Männerblicken genießen zu können. Sie ist zwar ein unverkrampfter, lockerer Typ, aber es stört ihre
natürliche Verhaltensweise, wenn sie schwitzend oder auch entspannend das Gefühl hat, fremde Augen würden
in ihre Nacktheit eindringen und oft genug hat sie die im halbdunklen Saunaholz lauernden Blicke aufgefangen,
die nur die Schwere und Form ihrer Möpse abtasten wollen oder gierig darauf blicken, ob sie ihre
Schambeharrung gerade, dreieckig oder als Büschel gestutzt hat. Sie kann immer gar nicht verstehen, dass es
Frauen geben soll, behauptet jedenfalls ihre beste Freundin, die in dieser Wellnesswelt bewusst mit den
Geschlechtsunterschieden kokettieren.
Heute ist sie ein wenig später dran als sonst. Aber in den verbleibenden drei Stunden könnte sie ihr normales
Programm schaffen. Zum Warmwerden zweimal Bio saunieren, mit den Spezialaufgüssen des Hauses
versprochen aus reinem Naturanbau, dann der krasse Wechsel in die Dampfkabinen und der tropischen
Feuchte und abschließend folgt Julias Härtetest in der kochenden Abteilung mit Temperaturen bis zu 120
Grad. Erst nach dem gesamten Pensum, stellt sich die vollständige Abschaltung bei Julia ein. Sie fühlt sich
dann schwerelos und hat schon so manchen süßen Traum auf der Pritsche unter den Palmenkübeln in
ihrem Kopf mit dem geröteten, rosigen Antlitz erlebt.
Die ersten Duftwellen aus Lavendel und Jasmin hat sie bereits hinter sich und unter der eiskalten
Schwalldusche keuchend, wischt sie sich die Wasserperlen vom Körper, um sich sofort in eines der
kuschelweichen, lebensgroßen Tücher des Hauses zu wickeln. Julia hat heute ihre Lektüre vergessen
und lässt den Blick über den mittelgroßen Raum schweifen, der durch seine Spiegelvarianten und
pflanzlichen Raumteiler nicht nur Behaglichkeit ausstahlt, sonder auch die räumliche Großzügigkeit mit
dem individuellen Ansprüchen paart. Sympathisch leer ist es heute, geht es ihr durch den Kopf, wobei die
Betreiberinnen es immer geschickt verstehen, das Angebot über die Woche zu strecken und die
unterschiedlichen Altersbedürfnisse abzudecken.
Einmal hatte sich Julia in den Seniorinnentag verirrt und wurde durch die lebhafte Erinnerungsgeschichte
einer Sechsundsiebzigjährigen überrascht und so gefesselt, dass sie gleich zwei Gänge gespannt lauschend,
regelrecht auf der Pritsche verschwitzte. Julia gehört zu der zweitgeborenen Nachkriegsgeneration und
konnte sich nie aufrichtig bzw. mit einem gewachsenen Verständnis für die Antikriegsfilme oder auch die
überreichlich angebotene Literatur und deren Leidensschilderung der damaligen Zeit erwärmen. In der
sanften Atmosphäre gerade einen Saunagang abgeschlossen zu haben, den Kälteschauer noch in sich
rieseln zu fühlen, konnte sie in dem unverfänglichen Gesprächsbeginn mit der älteren Dame, deren
blauädrigen Schienbeine genau in Julias Blickwinkel fielen, nichts Lästiges finden. Wie erhaben die ältere
Stimme jedes Wort setzt und durch das markante, faltige Gesicht umrahmt von der grauen Haarhaube
an Ausdruck gewinnt, schoss es der jungen Frau durch den Kopf, als die Dame unvermittelt über ihr
Leben berichtete, so als setzte sie ihre Erzählung einfach nur fort. Julia erfuhr von ihrem Leben als
Pianistin, welches von Kindesbeinen an nur diesem Instrument gewidmet wurde. Sie stammte aus
einer traditionsreichen jüdischen Kaufmannsfamilie und ihr Glück erwuchs daraus, zwei ältere Brüder
zu haben, so dass sie in ihrer Lebenswahl unabhängig vom Geschäftlichen war. Es war kein Entschluss
den Musikerweg einzuschlagen, für sie war es eine Berufung. Natürlich erleichtert durch das
unbeschwerte und großzügige Leben, welches sie sich durch den Wohlstand und die Liebe ihrer Eltern
leisten konnte. In ihrer Umgebung gab es Niemanden, der sie nicht um ihrer Selbstwillen mochte und
bewundernd den zielstrebigen, kindlichen Weg der Begabten verfolgte. Der aufkommende Nationalsozialismus
wurde im elterlichen Haus lange Zeit nicht ernsthaft aufgenommen und keiner dachte daran, diesem mit
Vorsicht und Entschlossenheit zu begegnen. In kurzen erregten Sätzen schilderte die Dame, wie auch ihre
Familie nicht von den Schrecken der Kristallnacht verschont blieb. Es waren die letzten, verzerrten Bilder
von ihren Angehörigen, die sie verborgen in einer Kellerkiste durch das mit Spinnenweben verschmutzte
Klappfenster wahrnehmen konnte.
Schluchzend folgte ihr Blick dem Fahrzeug auf dem Mutter, Vater und die älteren Brüder mit ihren ängstlichen,
stummen Gesichtern ins Ungewisse entführt wurden. Kein Fotoapparat, könne ihr diese Bilder nachstellen,
die zwar verblast sind und der Schmerz linder über ihr Herz streicht, aber immer wird der Klang ihres
Klavierspiels geprägt sein von der unlöschbaren Wehmut des Verlorengegangenen. Im gleichen
Atemzug gesteht sie ihrer Pritschennachbarin ein, dass sie sicher niemals eine solche Berühmtheit erreicht
hätte, wenn sie dass Piano zwar technisch perfekt beherrscht hätte, aber nichts von dem, was sie durch die
Grausamkeit an Kummer und Verzweiflung erleiden musste, in ihr Spiel eingeflossen wäre.
Während Julia sich an diese Begebenheit erinnert und es für sie unvorstellbar bleibt, wie ein zwölfjähriges
Mädchen zwei Jahre lang unentdeckt bis zum Kriegsende in den Kellern einer Stadt verborgen bleiben
konnte, ohne vom Hunger oder der Angst aufgefressen zu werden, registriert sie ihre heutigen
Saunabegleiterinnen. Sie kann zwischen den Palmen vorbeisehend drei unterschiedliche Frauen entdecken.
Eine scheint in ihrem Alter zu sein. Direkt gegenüber an der Biosauna liegt eine etwas älter, rundliche Frau
und blättert in einer Illustrierten. Unter den Duschen beobachtet Julia eine jüngere Frau, fast noch ein
Mädchen, bei deren Figur sie selbst als Frau ins Schwärmen geraten könnte.
Die Proportionen des jungen Körpers sind perfekt von Mutter Natur eingehalten wurden. Beine nicht zu lang,
nicht zu kurz, beginnend von den schmalen Fesseln setzt sich der feste Beinaufbau fort und weist auch keine
Pölsterchen an den Innenschenkeln auf. Den fettarmen Oberkörper ziert eine Taille, als hätte der Bildhauer
gerade seine letzten Handbewegungen über die toskanisch gerundeten Wölbungen bis zum Poansatz
gleiten lassen. Die straffen Brüste sind vielleicht einen Mü zu klein, werden aber genau mittig betupft von zwei
tiefbraunen Kakaobohnen.
Julia wird in ihren Betrachtung unterbrochen durch ein Klopfen am winzigen Fenster der dicken Holzeingangstür.
Sie erhebt sich als Erste und geht auf das Gesicht hinter der lütten Scheibe zu. Es ist eine der beiden
Besitzerinnen, die durch heftige Fingerbewegungen etwas anzudeuten versucht. Warum öffnet sie nicht die Tür
denkt Julia mit ihrer gewohnten, raschen Logik. Als sie jedoch selbst an den breiten Griff fast und die Tür, die
ansonsten so bedächtig nach dem Öffnen in ihr Schnappschloss zurück sackt, sich nicht heranziehen lässt,
befällt sie ein spontanes ungutes Gefühl. Normalerweise kann man die elektronisch gesicherte Tür von Außen
nur mit einer Chipkarte passieren und von Innen ist sie ohne Entriegelung zu öffnen. Die Chefin des Hauses
verschwindet wieder und Julia dreht sich zu den anderen Sauna-insassinnen, die mittlerweile die irreguläre
Situation gewittert haben, um. Die ratlosen Blicke fokussieren sich auf die schuldlose Julia und scheinen zu
fragen, was ist denn geschehen, gibt es hier in der unantastbaren Saunaatmosphäre etwa ein unschickliches
Ereignis?
Die Vier, die sich nun gemeinsam vor der als Gefängnistür entpuppten ehemaligen, harmlosen Eingangstür
des Saunareiches positioniert haben, versuchen, nach dem Jede ergebnislos an der Tür gerüttelt hat, durch
das Fenster nach neuen Erkenntnissen zu spähen. Jetzt kommt die andere Inhaberrin, die täglich ihren
wohlgeformten, üppigen Busen durch hautenge Pullis untermauert, bewaffnet mit einem großen beschrieben
Bogen auf die vier Augenpaare zu.
Halblaut liest die Jüngste der Gefangenen das Geschriebene vor. Meine Damen es tut uns leid, wir haben
einen elektronischen Defekt an der Türsicherung. Im Moment versucht meine Kollegin den Stördienst zu
erreichen. Wir hoffen, dass das Problem in Kürze behoben wird.
Die sonstigen Einrichtungen sind unbetroffen geblieben, so dass sie ihre Entspannung fortsetzen können.
Julia ergreift in der Unschlüssigkeit die Initiative und schlägt vor, nach der überlangen Ruhephase doch
einen ausgiebigen Saunagang mit selbst erwählten Aufgüssen gemeinsam vorzunehmen. Aufgekratzt durch
die ungewöhnliche Situation gefangen zu sein und es doch auch nur als Spaß aufzufassen, da die Befreiung
sicherlich schon naht, gehen die vier Grazien auf die heißen Bänke und frönen diesmal nicht nur der Ruhe,
sondern nehmen einen regen Plausch über das Vorgefallene und alle möglichen Spekulationen daraus auf.
Die junge Frau steigert den aufkommenden, unbewussten Übermut hervorgerufen durch die Abenteuerlichkeit
der Situation, in dem sie die frischen, würzigen Aufgüsse durch ein temperamentvolles Handtuchwedeln
begleitet. Bei ihrer nächsten feurigen Heißluftattacke erblickt sie beim Aufstehen, dass sich wieder etwas
hinter der Eingangstür bewegt. Neugierig eilen alle vier Erhitzen zu dem Fensterkuckloch und erkennen erneut
einen beschrieben Papierbogen. Diesmal ist “es tut uns leid“ zweimal dick unterstrichen. Was dann folgt,
verursacht Sprachlosigkeit bei den vier Frauen.
Sie können es kaum glauben, ohne einen geschmacklosen Witz zu vermuten, aber dort steht tatsächlich, dass
der einzig kompetente Monteur nicht vor neun Uhr Morgen früh erscheinen kann. Den Rest des Bedauerns
können sie sich schenken und genauso benebelt, wie der Dampf aus der geöffneten Sauna, wenden sie sich
erneut dem Pritschenlager zu. Eine Weile herrscht völlige Ruhe, in der Jede zu denken scheint, das kann doch
nicht wahr sein und bereits sondiert, was an diesem Tag nun nicht mehr so ablaufen wird, wie es sollte.
Julia hat über die Folgen weniger zu grübeln. Sie ist unabhängig und was ihr geschieht, ist uninteressant für alle
anderen. Sie muss sich um niemanden sorgen und auch keine Erklärungen abgeben, zu denen sie
wahrscheinlich auch keine Lust treiben würde. Aber die anderen sinnt sie nach, haben sie Männer und Kinder,
die nicht ohne sie zurecht kommen oder denen es egal ist, ob sie nun heute oder morgen erst wieder daheim
sind. Nicht mal etwas zum Schreiben haben die evakostümierten Frauen, um die praktischsten Mitteilungen
weiterreichen zu können. Unwillkürlich sind die Vier dichter zusammen gerückt, haben nicht die die
Möglichkeiten der vereinzelten, lauschigen Ruhenischen gesucht, sondern ihre ganze Körpersprache drückt
den Drang nach Solidarisierung aus.
Nun müssen wir hier also den Abend und die Nacht verbringen scherzt das junge Mädchen. Wenigstens mal
eine Gelegenheit zum Fasten und zur Vermeidung des Jo Jo Effektes nach dem Saunieren albert sie weiter.
Irgendwie ist es wie in den vielen Fahrstuhlfilmen, wo dann die zufällige, langweilige Annäherung der attraktiven
Schönen mit dem sportlichen Coolen beginnt ,setzt Anja, so gibt sie ihr erstes Geheimnis preis, fort. Wie wäre
es, sagt sie in einem aufmunternden Tonfall, wenn jeder etwas von sich oder über sich berichten würde. Sie
sind unterschiedlichen Alters und vielleicht kommt so Erstaunliches für Jede heraus. Natürlich sei sie als
Vorschlagende bereit den Anfang zu machen, denn sie will ehrlich sein und nichts provozieren.
Schon die ersten Sätze von Anja versetzen die anderen in eine bereitwillige Zuhörstimmung, denn das
Mädchen hat nicht nur eine wohl temporierte Erzählweise, sondern die Untermalung des Gesprochenen
durch ihre flüssigen Handbewegungen und die Betonung mittels eines niedlichen Augenbrauenverziehens,
erweisen sich als eine angenehme Begleitmusik.
Sie ist jetzt einundzwanzig, studiert Physik und liebt die Astrologie, beginnt Anja ihre nüchtern wirkende
Einleitung. Das Leben im Allgemeinen findet sie ganz schön und hat es lange Zeit als unkompliziert
eingeschätzt. Je älter sie aber geworden ist, um so mehr belasten sie die Dinge, die über ihr bisheriges
Umfeld hinausgehen. Es beginnt bereits in ihrer Stadt, ihrem Staat, ja in der ganzen Welt wo überwiegend
nur Chaos vorzufinden ist. Manchmal ist sie von dem Sterben, Hunger, der Krankheit und Ungerechtigkeit
völlig überfordert, aber vor allem auch deshalb, weil die Ohnmächtigkeit sich wie eine Mauer länger als das
chinesische Weltwunder vor der Menschheit aufgebaut hat. Wie unwichtig kommt ihr da ihr eigenes Glück
vor, dass andere es bereits als unnormal ansehen, dass sie noch nie eine feste Beziehung hatte. In ihrer
männerüberlastigen Studienrichtung laufen ihr täglich zig Stielaugen nach, aber im Moment reduziert sie
ihre Bedürfnisse nur auf den reinen Sex. Für sie ist diese vielumwobene Eine Nacht Geschichte eine
praktikable Lösung. Ohne Scheu vor ihren fremden Zuhörerrinnen berichtet sie darüber, dass es
selbstverständlich auch schon Pannen gab und sie in maskuliner Art und Weise die Angelegenheit bereits
vor dem Frühstück erledigte. Sie empfindet es als absurd, es nur mit einem Partner aushalten zu müssen,
um ab und an den Lustakt vollziehen zu können. Zur Verstärkung ihrer Thesen benutzt sie das eigene
Sternzeichenhoroskop, welches ihr den Drang zur Selbstständigkeit und einer freien Lebensführung
bestätigt. Ansonsten fügt sie hinzu, bezieht sie ihre astrologische Neugier weniger auf sich. Für sie sind die
historischen Aufarbeitungen vor dem Mittelalter, also noch vor einem Kepler, Galilei oder Nostradamus
faszinierend. Einige Bücher habe sie verschlungen, erklärt sie ihren willigen Zuhörerrinnen, um den
Wahrheitsgehalt von Prophezeiungen, wie zum Beispiel die vom Kaiser Nero, dem bereits in der Wiege
seine Kaiserkrönung und die Ermordung der eigenen Mutter Agrippina voraus gesagt wurden, bestätigt
zu bekommen. Erstaunt habe sie dabei erfahren, was die Menschen in ihrem Drang in die Zukunft zu
schauen alles für Mittel bis in die heutige Zeit anwenden. Das reicht vom einfachen Karten deuten, über
das Lesen der Linien auf der Handfläche bis zum Auslegen von Tiergebeinen oder des Ausschütten von
Kaffeesatz oder auch bis zur Beobachtung von Vogelschwärmen und der Art wie sie sich formatieren.
Es gäbe eine Menge über die auch als Wissenschaft anerkannte Astrologie zu erzählen. Anja lacht,
aber dazu müssten wir noch Nächte vor uns haben, denn die Anfänge führen bis zu den Chaldäern vor
über zweitausend Jahre zurück.
Julia kann nicht umhin darüber nach zu grübeln, ob sie es nun als Widerspruch auffassen soll, in der
jungen Frau einerseits die Sensibilität für das menschliche Versagen und andererseits die
Respektlosigkeit vor den zwischenmenschlichen Gefühlen kurioserweise gleichzeitig in Harmonie vereint
zu sehen.
Draußen muss es inzwischen Nacht geworden sein, denn die Betreiberinnen des neuen Gefängnisses
haben sich vor längerer Zeit nochmals in der bewährten plakatierten Form schriftlich entschuldigt, ihr
Bedauern aufgekritzelt und sind dann, da sie weiter keinen Beistand leisten können, bekümmert von
dannen gezogen.
Anja, die die freundlichen, prüfenden Blicke ihrer Zwangszuhörerrinnen registriert, spannt den Bogen
weiter und fügt hinzu. Natürlich stehe ich noch sehr weit am Anfang meines Lebens und werde in vielen
Dingen andere Einsichten hinzu gewinnen, aber ich glaube schon jetzt, dass solche Grundwerte wie
Ehrlichkeit, über den eigenen Tellerrand hinaussehen und kämpferisches Engagement für menschliche
Grundwerte nicht verloren gehen dürfen. Nur wer selbst zu satt wird, läuft Gefahr in Engstirnigkeit und
Egoismus zu verkommen. Über Kinder denke sie offen gestanden nicht nach und dabei will ich nicht
die Phrase vorschieben, welche schlechte, ungerechte Welt sie zu erwarten hätten und alle heutigen
Eltern würden ihren Nachkommen einen unverantwortlichen Bärendienst erweisen. Nein ich spüre einfach
kein Muttergefühl in mir, schiebe auch nicht Studium und den passenden Augenblick oder Partner davor,
setzt Anja ihre Offenheit fort. Sie kann es sich auch nicht erklären, so gern sie beispielsweise einen
Orgasmus hat, spricht ihre Kindesbiologie noch kein Wort mit ihr.
Sie weiß nicht so recht weiter und meint etwas verunsichert, viel mehr gibt es aus meinem Leben noch
nicht zu berichten, wenn ich nicht im Sandkasten beginnen wollte.
Edith, die Älteste von den vier Frauen springt ihr zur Seite und lobt sie für ihre ungezwungene Bereitschaft
von sich selbst zu erzählen. Sie selbst sei so gar kein Typ sich anderen, auch vertrauten Personen zu
offenbaren. Wie die anderen sicher richtig vermuten, lässt ihr schlichtes Äußeres auf die typische
Hausfrau schließen. Sie gehe aller vier Woche zum Frisör, hat sich Mittlerweile mit ihrer weiblichen Figur
abgefunden und beschäftige sich zu Hause, da die Kinder inzwischen schon fast selbstständig sind, am
liebsten mit ihrer Katze. Allerdings ist sie, jetzt ist sie siebenundvierzig, auch nicht so in das
Erwachsenwerden gestartet wie Anja.
Bei ihr gab es weniger Großzügigkeit und die heutigen Möglichkeiten sich zu entfalten, hätten sie damals
eher verwirrt. Aus dem Zustand nie wichtige Entscheidungen selbstständig zu treffen, ist sie nicht
hinausgewachsen. Entweder war es das Elternhaus, in dem sie bis zur frühzeitigen Ehe mit ihrem
auch noch jetzigen Mann, abwarten musste, was für sie das Richtige im Leben ist bzw. später verhielt es
sich in ihrer gegründeten Familie nicht anders.
Eigentlich ist sie mit dem Grundsatz groß geworden und hat ihn später selbst praktiziert, dass eine Ehe
nur Bestand hat, wenn eine Seite dominiert und die andere dies akzeptiert. Wie dicht man sich an diese
Grenze wagen kann, hat sie in den Anfangsjahren ausprobiert, aber nie einen tatsächlichen
Konflikt heraufbeschworen. Es fällt ihr schwer, sich überhaupt daran zu erinnern, in welchen Fällen sich
eine Rebellion gelohnt hätte. Sicher gab es häufig Meinungsverschiedenheiten, was die Kinder noch tun
und lassen dürften, aber für sich selbst könnte sie nicht reproduzieren, was ihr gefehlt hat und welche
ihrer geheimsten Wünsche in den fast zwanzig Ehejahren nicht verwirklicht wurden. Sie hebt den Kopf
schaut die anderen der Reihe nach an und sagt sehr gefasst und fröhlich, vielleicht ist es gut, dass ich
heute in diese Extremsituation verwickelt wurde. Ich beginne wie aus einer Erstarrtheit aufzutauen und
denke gar nicht, wie kommen sie heute beim Abendessen und Morgen mit ihrem Frühstück zu recht oder
ist gar noch etwas Dringendes zu waschen und zu bügeln.
Nochmals danke Anja, auch ich finde das Leid auf der Welt furchtbar und im Grunde ist es doch spießig,
wenn ich in unserem Vorgarten das kleinste bisschen Unkraut herauszupfe und tatsächlich erstickt der
Erdball durch die geldgierige, rücksichtlose Umweltunvernunft. Aber da komme ich am gleichen Punkt an.
Was kann ich Einzelne bewegen, wo wird meine Kraft mit der der anderen gebündelt? Wisst ihr, oh
Entschuldigen, dass ich einfach in das Du verfalle, wenn ich wieder zu Haus bin, fange ich bei mir an.
Sicher gibt es keinen Grund meine Ehe zu stürzen, denn da gibt es auch sehr viel Vertrautes, was man
nicht einfach aufs Spiel setzt. Es rennen so schon Genügend, viel zu voreilig auseinander. Aber ich möchte
etwas dazu gewinnen, nicht nur der Sklave meiner größer werdenden Kinder sein, die in der Bequemlichkeit
sehr charmant ihre Unselbstständigkeit demonstrieren. Aufwecken will ich meinen Brummbären, so nenne
ich ihn, wenn die Harmonie auf dem Höhepunkt ist, denn schließlich will ich den neuen Lebenswillen mit ihm
teilen. Es ist einfach töricht, jahrelang nicht im Theater oder Konzert gewesen zu sein und immer einen
Vorwand zu finden, wenn die Natur mit ihrer Vielfältigkeit lockt.
Alle merken wie erleichtert und aufgedreht diese Edith, die sie doch erst seit heute kennen, geworden ist. Im
Stillen freuen sich alle schon im Vorhinein mit ihr, wie sie die kleinen Schritte zum persönlichen Lebensglück
angehen wird. Obwohl es bereits nach Mitternacht sein muss, am Anfang hatten sie noch laufend die Sanduhr
gedreht, zeigt Keine Ermüdungserscheinungen. Jede hört zu und scheint sich im gleichen Augenblick den
Spiegel vors eigene Gesicht zu führen. Eins haben sie aber bereits alle Vier begriffen, dass sich eigentlich
Keine die Zeit nimmt, tiefgründiger über ihr Handeln und ihre Vorstellungen nachzudenken.
Darf ich von mir berichten, wenn Edith nicht noch etwas hinzufügen will, meldet sich die von Julia als gleichaltrig
Geschätzte. Nicht übel getippt denkt Julia, als sie erfährt, dass Mona gerade dreiunddreißig geworden ist. Ich
weiß gar nicht wie ich beginnen soll, denn ich passe überhaupt nicht in die beiden vorherigen Raster. Sie hat
eine wunderbare dunkle und voll klingende Stimme, die wie maßgeschneidert für diese Atmosphäre scheint.
Um Politik oder Katastrophen habe ich mich immer schon wenig geschert. Seit meiner Kindheit war die große
Liebe mein einziges Hirngespinst. Angefangen vom Glück des armen Bauernmädels mit dem edelmütigen
Prinzen, waren solche Bücher, wie Vom Winde Verweht, Kult für mich. Auch wenn sich in den Jahren vieles
relativiert, bin ich in meinem Grundsatz nicht davon abgekehrt. Aber um mich für euch verständlich zu machen,
darf ich bitte ein wenig weiter zurückgreifen. Alle nicken sehr angetan und sind völlig gefangen von dieser Zara
Leander Stimme. Ich war erst sechzehn Jahre da drohte mir das erstemal das Herz zu zerspringen. Ihr dürft
nicht denken, ich sei kitschig, aber tatsächlich war ich hin und weg für meinen Mathelehrer. Die anderen
Mitschülerinnen, die ich so vorsichtig über ihre Meinung zu ihm aushorchte, fanden ihn furz trocken. Mir gefiel
aber gerade die steife Art, mit der er eine unnahbare Distanz zu uns aufbauen wollte. Leider konnte ich auch
kein Bevorzugungsanzeichen erkennen, dass meine schmachtenden Blicke bei ihm angekommen wären.
Ganz schlimm wurde es, als eines Tages seine ebenfalls sehr junge Frau ihn samt Kinderwagen vom
Schuldienst abholte. Glaubt aber nicht, dass eine Welt in mir zusammen brach, denn ich hatte auch genügend
Literaturbeispiele über gescheiterte Ehen, die alle Außenstehenden für die Vortrefflichsten hielten. Nur Geduld
musste mein erschüttertes Herz aufbringen, denn erst zwei Jahre später zum Schulabschlussball, hatte ich
Gelegenheit, mich meinem Vergötterten zu nähern. Ganz irre von meinen Gefühlen, forderte ich ihn trotz aller
anderen am Tisch anwesenden Lehrer, forsch zum Tanz auf. Ich hatte natürlich damit gerechnet, so offiziell
keinen Korb bekommen zu können. Wir wussten auch nicht so recht, wie man eine Unterhaltung beginnen
könnte. Ich hielt das ein was ich mir vorgenommen hatte, nicht so vordergründig meine Weiblichkeit an ihn zu
pressen, aber meine Brüste musste er sich da schon zum erstenmal gefallen lassen. Zum Glück schien es ihm
nicht so unlieb zu sein. Irgendwie kamen wir darauf, dass er in seiner Freizeit leidenschaftlich gern Tennis
spielt, aber sehr selten, weil das passende Gegenstück fehlt. Unbekümmert preschte ich vor, diesen Mangel
locker ausgleichen zu können, da ich seit neun Jahren selbst dem Snobsport huldige. Er schien nur davon
verblendet zu sein, sein Hobby nicht länger missen zu müssen. Denn er wusste an dem Abend, als er das
Angebot ohne Bedenken annahm noch nicht, dass nun alles unauf-haltsam zwischen dem ungleichen Paar
begann. Sehr bald verkürzten sich ihre gemeinsamen Tennisstunden auf ein Minimum und der Leidenschaft
vor der auch er sich nicht mehr bremsen konnte, wurde im Auto, Gestrüpp, unter der Brücke und dem
Parkklo ausgiebig und wild kein Halt mehr geboten. Es war aber nicht nur die reine Begierde, die mich in
meiner ersten Erfahrung und ihn, angelockt durch meine Jugendlichkeit, aufeinander stürzen lies, auch geistig
standen wir uns sehr nah und genossen nach der animalischen Befriedigung unser Zusammensein der
zärtlicheren Berührungen und witzigen Wortspiele.
Drei Jahre hielten wir diesen Wechsel der Momente des Glücks und der Entbehrung aus. Ich verzichtete auf
eine aussichtreiche Ausbildung in einer weiter entfernten Stadt und er brachte das Opfer, sich wegen mir
von seiner jungen Familie zu trennen.
Später bin ich oft ins Grübeln verfallen, ob ich Unrecht verursacht habe. Zu dem Zeitpunkt unserer
vollständigen Verschmelzung herrschte die Blindheit über uns. Seine Anbetung für mich wurde mit den
Jahren immer intensiver, manchmal schon unerträglich für mein Erwachen als Frau. Erst in meinem zweiten
Leben, wie ich es bezeichne, wurde mir bewusst, was ich damals schon vermisst haben muss. Mona
schweigt eine Weile und das Innehalten der anderen scheint auch sie zu beruhigen. Wisst ihr, ich bin nämlich
lesbisch. Bevor die Ruhe den Schock hoch kommen lässt, redet sie schnell weiter. Es gab nicht mehr viel, von
ihm und mir zu erzählen. Eines Tages als ich auf Hanna traf, war wieder alles lichterloh bei mir und ich ließ den
Armen, der alles für mich aufgegeben hatte, einfach zurück. Es muss ihm das Herz gebrochen haben. Aber für
mich war es gut und richtig. Eine Frau zu lieben, ist nicht vergleichbar mit der Beziehung zum Mann und wenn
es die Richtige ist, ist es seelisch und körperlich wunderbar. Wenn Hanna zärtlich zu mir ist, ist das wie der
Monsun, der meine Haut an allen Stellen gleichzeitig erzittern lässt. Spielen ihre Lippen und ihre Zunge mit
meinen intimsten Freuden, dann spür ich die Kraft eines heftigen Sandsturmes über mich hinweg fegen.
Entschuldigt ich wollte euch nicht in Verlegenheit bringen und ihr müsst auch nicht angestrengt darüber
nachdenken, wie damit umgehen. Es ist einfach Blödsinn anzunehmen, eine Lesbin würde in die Sauna
gehen, um sich an ihrer Neigung zu ergötzen. Für mich ist der reine Erholungswert das alleinige Motiv.
Ein Geräusch unterbricht die letzten Worte von Mona, der Morgen muss angebrochen sein. Keiner merkt
man die Müdigkeit an, als erlösend die Tür geöffnet wird und ein breit grinsender Mann in Schlossermontur
dahinter erscheint. Die Besitzerinnen ergehen sich noch einmal in ihr unendliches Bedauern und geben den
fröhlichen Frauen zum Trost ein Gratis Monatsabo mit auf den Weg.
Sie treten an das Tageslicht und fühlen sich so, als hätten sie nach Jahren eine düstere Höhle verlassen.
Schnell verabschieden sie sich mit verstehenden Blicken und Julia notiert sich rasch die Telefonnummern.
Zu Hause angekommen, stellt Julia sich die beiden Sessel im Wohnzimmer gegenüber, so dass sie mit
ausgestreckten Beinen eine ideale Liegesitzhaltung einnehmen kann. Mit dieser hervorragenden
körperlichen Voraussetzung beginnt sie die frischen Eindrücke zu verar-beiten. Sie versucht die
Unterschiedlichkeiten, der jungen, unbeschwerten Revolutionärin, der ehemals hausbackenen Hausfrau
und der total, gefühlsegoistischen Vulkanspeierin zu filtern. Dazu nimmt Julia sich einen Notizblock,
schreibt das Wesentliche auf und skizziert aus der Erinnerung ein Kopfporträt der Jeweiligen.
Die Aufarbeitung der fremden Ansichten und Gefühlswelten verringern Julias eigene Fragezeichen nicht.
Im Gegenteil bemüht sie sich zu konstruieren, was sie von sich rüber gebracht hätte, wenn die Befreiung
sich verzögert hätte. Rekapituliert sie das Erzählte, so dreht sich doch alles um das Glück oder einfacher
ausgedrückt, die Zufriedenheit mit dem Leben. Wenn sie ehrlich ist, möchte sie nicht die Frage vorgesetzt
bekommen, ob es, um uneingeschränkt glücklich zu sein, der dauerhaften Nähe eines anderen Menschen
bedarf? Was sind ihre bedeutenden Lebensziele, hat sie etwas falsch gemacht? Ihr Vater hat ihr beigebracht,
sich nicht von der Bahn abbringen zu lassen, auf die man sich begeben hat. Der Bauch entscheidet oft
glücklicher als der Verstand. Ein Weiser hat nur deshalb so schloh- weiße Haare, weil er sich seines unnötigen
Wissens grämt und den Ballast nicht sinnvoll verteilen kann. Sie hat sich diese Weißheiten zwar nicht als
Lebensmaxime verschrieben, aber der geschätzte väterliche Rat haftet nach und hat bisher keinen Platz
gelassen für Zweifel.
Sie sehnt sich fast nach der nächtlichen Runde zurück, denn erst jetzt merkt sie, wie schwer es ist, allein mit
seinen Gedanken vorwärts zu kommen. Wie viel einfacher lässt sich aus dem Gehörten schöpfen und nur das
auspicken, was einen selbst anspricht. Warum sollten wir uns nicht wieder treffen, spinnt sie den Gedanken fort.
Sie beschließt, dass vierzehn Tage genug sein müssten, um den Abstand zu wahren, aber auch um die ersten
Resultate sprießen zu sehen.
Julia kontrolliert noch einmal, ob sie den Zettel mit den Telefonnummern findet und erwärmt sich selbst an dem
Gedanken die Anderen zu sich einzuladen. Die hinausgeschobene Müdigkeit überfällt sie nun doch ruckartig und
mit bereits geschlossenen Augen, sinnt sie darüber nach, wie gespannt sie darauf wäre, von Mona mehr darüber
zu erfahren, worin die wesentlichen Unterschiede im Zusammenleben mit einem Mann oder einer Frau bestehen.
Kurz scheint ihre Einschlafphase zu stoppen, um die Überlegung offen zu halten, ob die Beantwortung für sie wichtig
oder nur interessant ist, bevor der übermächtige Schlaf weitere wegweisende Lebensbetrachtungen verschluckt.