Das unerwartete Paket

Nichts erscheint Henry trügerischer, als wenn am Morgen die Sonne durch die Jalousien

ihres Schlafzimmers blinzelt.

Meistens folgt die himmlische Undankbarkeit im späteren Tagesverlauf, in dem sie sich wolkenbruchartig entlädt oder einen Strippenregen über das Land verbreitet, der in Lustlosigkeit das städtische Leben lähmt und alle ansonsten gewillten Spaziergänger, Einkäufer, Kneipenenthusiasten und Sporttreibende zu Stubenhockern degradiert.

Gerda, seit achtzehn Jahren sein Eheweib, bleibt von solchen nichtigen Betrachtungen verschont. Ihr Erwachen vollzieht sich in Etappen und gehört zum festen, ehelichen Ritual.

Extravagant aber gemütlich haben sie ihr Schlafgemach, das größte Zimmer des Hauses,  eingerichtet. Außer dem gut dimensionierten, lustvollen Schlafplatz beherbergt der Raum noch eine Frühstücksecke mit zwei Korbsesseln und einem ovalen Glasplattentisch sowie in der Diagonalen gegenüber, direkt neben der durchgehenden Fensterfront auf der Ostseite, steht das liebste Erbstück, ein aufklappbarer Sekretär aus der Jugendstilepoche. Selbstver-ständlich ist davor ein stilgerechter, gerade erst frisch gepolsterter Hochlehnenstuhl platziert.

Henry hat sich inzwischen mürrisch aus dem Lustbett heraus gequält und begibt sich an die Fitnessgeräte, einer weiteren Einrichtungsvariante des Allroundzimmers.

Sehr lange haben die beiden Eheleute die Auswahl des Zimmers bedacht, bevor sie vor neun

Jahren aus der hektischen Stadtwohnung im Zentrum an den Ortsrand ausgewichen sind.

 

Als sie noch jung waren, hatte es sie geradezu in die pulsierende, zentrale Wohnlage gedrängt. In unmittelbarer Nähe konnten beide ihre Büros bequem zu Fuß erreichen, so dass sie den gemeinsamen Morgen weidlich ausdehnten und selbst Mittags, wenn jeder es einrichten konnte seine Pause etwas zu überziehen, wurde ihre Wohnstatt zum Tagesliebesnest. Entscheidend für die Wohnungsauswahl in der Altstadt war aber, bevor sich die anderen Vorzüge dazu gesellten, die Nähe zum abendlichen Ambiente der Innenstadt. Da gab es keinen langweiligen Abend. Abgesichert durch eine respektable finanzielle Vergütung brauchten sie keine Gedanken daran zu verschwenden, ob sie heute lieber in dieses oder das nächste Restaurant gehen sollten oder gar auch mal darauf verzichten zu müssen. Mit den vielen geschlungen Kneipengassen im Rücken frönten sie das Jungeleuteleben ausgiebig. Irgendwann setzte auch bei ihnen eine Sättigung ein und ab und an schielte vor allem Gerda häufiger auf die Kinderwagen in den Kaufhausabteilungen und vor den italienischen Eis-ständen.

Nach vielen immer wieder von Hoffnung begleiteten Anläufen und den unangenehmen, aber unumgänglichen ärztlichen Tests, mussten sie in einer ersten bitteren Erkenntnis, die mit der Zeit milder und abklingender in ihren Herzen ruhte, einsehen, dass ihre Unfruchtbarkeit keine gemeinsamen Kinder gebären würde.

Eine der mittelfristigen Folgen war, dass sie noch enger zusammen rückten und das Wertvolle

ihrer Bindung schätzten. Später als keine andere Variante mehr in Frage kam, stürzten sie sich

auf die Alternative, sich durch eine Adoption den Traum von heran wachsenden Kindern zu erfüllen. Ihr Leben, welches nach den wilden Jahren nun in ruhigeren Bahnen floss und bereichert wurde durch den Kindergedanken, bedurfte nicht mehr des städtischen Trubels und

in Vorausschau dessen, bald mehr Platz für den angenommen Nachwuchs zu benötigen, entschieden sie sich mit einem beschwingten Gefühl für die großzügige Vorstadtvariante. Drei Jahre sind  bereits erfolglos verstrichen, entweder waren ihnen die elternlosen Kinder schon zu alt oder andere Wartende harrten bereits länger sehnsuchtsvoll auf die Erfüllung ihrer Wünsche und Vorstellungen.

In den Beratungen wurden sie mehrmals getröstet, wie schwer es sei im Innland geeignete Kinder zu finden, die den extremen Vorstellungen der zukünftigen Eltern gerecht werden. Es gäbe zwar genügend bemitleidenswerte Kindergeschöpfe, aber oft stammen sie aus konflikt-reichen Verhältnissen und können diesen unverschuldeten Ballast nicht abschütteln, schon gar nicht unter den Heimbedingungen von denen sie meist ausweglos abhängig bleiben. Die Mitarbeiterin verdeutlichte zwar auch ihr Verständnis für die hoffnungsfrohe, erwachsene Seite möglichst ungezwungene Schützlinge unter ihre Fittiche nehmen zu wollen und nicht von vorneherein mit Problemen konfrontiert zu werden, aber die überwiegende Realität braucht ein Mehr an Kraft und Verständnis.

So sind Gerda und Henry in einem Stadium angekommen, wo das rhythmische Bangen, jeden

Monat nachzufragen, abgeflacht ist und sie sich nicht mehr in das es muss sein hinein steigern.

 

Gerda hört das leise Surren des Hometrainers auf dem Henry bereits tüchtig strampelt und

sich mit dem über den Nacken gelegten Frottehandtuch in regelmäßigen Abständen die Schweißperlen oberhalb der ebenmäßig gewachsenen Augenbrauen abtupft. Nun beginnt ihre Phase des unweigerlichen Aufstehprozesses. Henry wie ist das Wetter miaut sie unter der leichten Gänsefederdecke hervor. Liebling es ist wie immer dreiviertelacht und du kannst dein niedliches Gesäß ruhig noch mal unterkuscheln. Mache ich mein Lieber, aber schöner wäre es, ich würde dir unter der Höhlendecke begegnen. Henry hat sich für seine nächste Übung auf dem Boden ausgestreckt und beginnt gleichmäßig ein- und ausatmend seinen in Linie gebrachten Körper, aus dem nur noch sein straffer Hintern leicht absteht, durch die parallel gesetzten Arme auf und nieder zu bewegen. Dabei zählt er laut und bei jeder zehnten Beugung stützt er sich besonders kräftig nach oben, so dass er blitzschnell seine Handflächen zusammen klatschen kann, um sie sofort wieder in der breiten Stellung auf dem Boden landen zu lassen. Mach nicht so einen Krach wirbt seine Gattin weiter um seinen Bettbesuch. Bei Siebzig ist Schluss, sonst stehe ich auf und du musst den ganzen Tag ohne Liebe durchstehen. Es stört sie nicht, wenn er verschwitzt ihrer letzten Mahnung folgt und mit seinen Zähnen vorsichtig beginnt die Schleifchen ihrer Spagettiträger des aus weinrotem Satin gefertigten Verführungsgewandes auf zu beißen. Beide wissen, dass Ihnen bis zum eigentlichen morgendlichen Ablauf nicht mehr viel Zeit gegeben ist. Sie sind darauf eingespielt in dieser kurzen Spanne schnell auf ihr Lusterlebnis zu stoßen. Ach wie du wieder stinkst, kichernd und mit einem leichten Stupser kullert sie ihren ehelichen Liebhaber nach der genossenen Wonne auf seine Bettseite. Was denkst du, wann schaffst du es heute zu Hause zu sein, will Gerda wissen. Henrys Brust hebt und senkt sich noch als Nachwirkung des raschen Liebes-aktes und er keucht, weiß nicht hängt davon ab, ob mein erster Projektentwurf gleich Akzeptanz beim Vorstand findet oder Schneider wieder an jedem einzelnen Detail herum nörgelt. Mein Armer, wenn die dich nur alle so gut verstehen würden wie ich, hättest du nicht schon die ersten grauen Schläfenansätze, setzt sie die Unterhaltung im Badezimmer angekom-men fort. Fängst du wieder mit meinem Lieblingsthema an, geht er böse spielend auf sie zu. Zur Strafe schiebe ich dir meine Zahnbürste zwischen deine samtigen vollen Kusslippen. Mit einem glucksenden Lachen unterdrückt sie ihre Freude über seine unmöglichen Verrückthei-ten und klammert sich an seine festen, handlichen Backen, um ihm seinen Spaß zu gewähren. Wie schön es ist so innig in ihre Augen zu schauen, schießt es ihm durch den Kopf, während er sich über sie beugt, um sein grausames Spiel munter fortzusetzen. Mein Gott Henry ruft die sich los reißende Gerda, als sie aus ihrem trunkenen Irrsinn durch die Zeitansage des Regionalsenders aufgeschreckt werden. Gerda gleicht den Zeitmangel mit unerschütterlicher Gelassenheit dadurch aus, auf das Frühstück verzichten zu wollen. Heute hat sie sich bei Henry verrechnet, denn ganz kribbelig ruft er schon ein paar Mal, kommst du. Mein Lieber besteh doch heute mal nicht auf unserer Zeremonie, meine Haare hast du ja schließlich total zerwühlt und keiner muss mir gleich ansehen, dass ich als altes Eheweib immer noch nicht genug von dir habe.

So umworben, würgt Henry das Mohnbrötchen hinunter und schlurft hastig seinen Trink-joghurt. Besänftigt durch ihren Esprit, schleicht er immer noch kauend zum Bad zurück, presst seine Holde, sich aber weit vom Kopfputz weg biegend, an sich und schnurrt ebenso versöhnlich, ist schon gut, wir können uns doch zum Ausgleich ein leckeres Abendessen gönnen. Gerda liebt es, wenn sie sich vor dem Verabschieden noch kleine Verabredungen

zu werfen.

Henry segelt bereits mit wehendem Mantel die Treppe herunter, als Gerda ihn für ein Ab-

schiedsküsschen zurück beordert und die vereinten Lippen durch ein heftiges Quietschen

voneinander getrennt werden. Vor der stets offenen Einfahrt, beide sind zu bequem jedes-

mal nach dem Ein- und Ausfahren die breiten, halb hohen Holzlattentore zu verriegeln,

hält eine der knall gelben Postautos. Genauso schnell wie angekommen, springt die Botin

aus ihrem Gefährt, hat bereits ein mittel großes Päckchen unterm Arm und streckt den Er-

staunten auch schon die Unterschriftsmappe mit dem elektronischen Stift entgegen. Henry

überlässt Gerda die Quittierung und spurtet selbst zu seinem Wagen. Gerdas von wem mag das sein, kann er bereits nicht mehr verstehen, eilig zurück lächelnd biegt er auf die An-liegerstrasse und entschwindet in seinen Arbeitstag. Gerda kann in der Hast, die sie nun selbst

auslösen muss, um nicht unpünktlich zur Öffnungszeit ihres Reisebüros zu erscheinen, den flüchtig überflogenen Absender auf dem Paket nicht einordnen. Reicht doch heute Abend,

wenn sie mit Henry zusammen Weihnachten simulieren kann, denn wann haben sie jemals schon ein Päckchen erhalten, beendet sie ihre Postgedanken, bevor das Schloss hinter ihrem Rücken zu schnappt.

 

Gerda kann heute zeitiger ihren Dienst beenden, da ihre Kollegin auf Grund früherer Fehl-

zeiten Überstunden produzieren muss. An Henrys Frühmorgenvorschlag für ein besonderes Abendmenü denkend, begibt sie sich noch schnell in Richtung Rathaus, um in den darunter liegenden Passagen das Notwendige im Feinkostspezialitätengeschäft zu erstehen. Ein Laden,

den sie nur bewusst ansteuert, wenn sie außergewöhnlich luxuriös speisen wollen oder zur Er-  probung neuer ausländischer Küchen. Heute hat sie sich für eine thailändische Fischvariante

entschieden. In beiden Händen bepackt mit den kostbaren Kulinarien versucht sie artistisch die Haustür zu öffnen. Ihr erster Blick fällt auf das morgendliche Päckchen, woran sie während des Tages gar nicht mehr gedacht hatte. Jetzt beginnt wieder die Grübelei, welchem Adressaten sie es zu verdanken haben. Ich werde auf Henry warten, so dass wir gemeinsam die Neugier teilen können, geht es ihr durch den Kopf. Gerda verkrümelt sich so gleich in ihr

Küchenreich, wo sie gnädiger Weise die Hauptrolle einnehmen darf, um Henry mit einem

perfekten Abendtisch zu überraschen.

Oh schön, registriert Gerda im Stillen, als sie die Wohnungstür klappern hört. Scheint ja alles reibungslos mit seinem Projektentwurf geklappt zu haben, dass er so super pünktlich nach Hause kommt. Jedes Mal freut sie sich aufrichtig mit ihm, wenn er vom Erfolg beschienen zurückkehrt, denn in seinem aufregenden Job hängt dieser täglich am Seidenenfaden und kann durch kleinste Diskussionen zerredet werden. Nachdem Henry sich im Bad erfrischt hat, fällt auch sein Blick auf das einsame Paket im Flur. Du Liebling, wer denkt denn da an uns, wüsste keinen der uns aus lauter Dankbarkeit beschenken sollte. Komm erst mal zu Tisch und bring das Geheimnisvolle mit, ruft Gerda aus dem mit Kerzen beleuchteten Esszimmer. Hm Fisch mein Liebling duftet ja verführerisch und der Tisch sieht auch wieder königlich aus. Du könntest dein Geld auch locker in der Gastronomie verdienen, albert Henry gut gelaunt herum und tätschelt ihr gleichzeitig einen ironischen Klatscher auf den Podex.

War richtig lecker deine asiatische Wahl, soll ich nun mal das Paket öffnen, fragt der sich

zurücklehnende Herr des Hauses seine bezaubernde Köchin. Ja mach nur, inzwischen bin ich

ganz kribbelig geworden, nachdem ich es tagsüber völlig vergessen hatte.

Vorsichtig entfernt der ungeübte Henry die breiten Klebebänder auf der Paketmitte und öffnet

die beiden Klappdeckel. Zuerst legt er einen Briefumschlag beiseite und fördert so dann nacheinander den gesamten Inhalt heraus.

Das spärliche Kerzenlicht gibt den Blick frei auf einen selbstgeschnitzten Kamm aus Tropenholz, eine Puppe gefertigt aus zwei Holzstäbchen wie ein Kruzifix, nur überzogen mit einem groben Leinenkleidchen, welches an den Rändern ohne Unterlass auszufusseln scheint, eine Glasmuschel, wie sie meist aus den Händen von Touristen auf dem schwarzen Kontinent zurückgelassen werden und einem Zettelchen mit kohleartig verschmierten Zeichen, die wie eine geheimnisvolle Stammesschrift die Phantasie des unwissenden Betrachters anregen.

Das ist alles sagt Henry mit der rechten Hand den Paketboden abtastend zu seiner Frau. Mit

ihren fragenden, unverständlichen Augen gibt sie zurück, was soll das bedeuten. Es ist wohl

das Beste reagiert Henry rasch, wenn ich den Brief dazu öffne, vielleicht bekommen wir dann

mehr Klarheit. Das Begleitschreiben ist in englischer Sprache angefertigt und Henry, der es

durch seine Geschäftspartner gewöhnt ist mit der Fremdsprache umzugehen, fasst für Gerda das Übersetzte zusammen. Vorab entnimmt er aus dem kreisförmigen Absenderlayout, dass es

sich um eine Hilfsorganisation mit Sitz in Abujan handelt. Meines Wissens ist das die Haupt-

stadt Nigerias, beantwortet er die Zwischenfrage Gerdas. Muss eines der furchtbaren Länder

in Afrika sein, wo der Unterschied zwischen Armut und verschwenderischem Reichtum Ein-

zelner immer krasser wird. Die Beihilfen der wirtschaftlich stärkeren Länder haben den Graben nur noch tiefer werden lassen. Dazu gibt es ständige Fehden zwischen den verschie-den Volksgruppen und die Ölvorkommen der vergangenen Jahrzehnte sind zur Bedeutungs-

losigkeit verkommen. Das weiß ich alles etwas genauer von Fischer unserem neuen Mitar-

beiter, der in seiner alten Firma jahrelang in einer afrikanischen Außenstelle Vertreter war.

Muss dort schrecklich sein, setzt Henry seine Detailkenntnisse fort. In den letzten Jahren hat das Chaos zu regelrechten Hungeraufständen geführt, bei denen die Militärmachthaber die

Protestierenden niedermähen ließen. Überhaupt soll es gefährlich sein, sich durch das Land oder selbst in den Städten zu bewegen. Da sich überall ein Bandenwesen entwickelt hat, welches beim kleinsten Anlass nicht vor der Tötung zurück schreckt. Ist ja grausam ent-gegnet Gerda und presst schockiert die Hände vors Gesicht. Er beruhigt sie damit, dass es seit kurzem auch für dieses bevölkerungsreiche Land an der Westküste Afrikas neue Hoffnung nach dem Sturz der Militärdiktatur gibt und ebenso für Touristen wieder die Chance besteht, die abwechslungsreiche Landschaft  der Mangrovenwälder und Lagunen im Nigerdelta, die tropischen Regenwälder und Savannen bis hin zu den Halbwüsten in der Sahelzone des Nordens kennen zu lernen.

Nun komme ich aber doch mal zum Inhalt des Schreibens und fasse für dich das Übersetzte

zusammen. Gerda hat sich inzwischen wieder beruhigt und lauscht ihm gespannt. Es ist ein

Bittgesuch welches die Organisation aus dem Familienministerium des Landes weiter gibt.

Jetzt halt dich fest Liebling. Darin steht geschrieben, dass wir beide eine Adoption eines afrikanischen Kindes anstreben. Sie kommen dem Wunsch nach und haben von den Tausen-den Fällen das sechsjährige Mädchen Nikita für uns ausgewählt. Wie vom Donner gerührt schweigen die beiden, bevor Gerda als erste stottert, das muss doch ein Missverständnis sein.

Warte mal fährt Henry fort, was sie uns jetzt über das Kind selbst mitteilen.

Nikita im Kongo geboren und später nach Nigeria verschleppt hat bereits sechs Jahre eines

Lebens hinter sich, auf die ein Europäer freiwillig verzichten würde bzw. in seiner Unkenntnis

nie beurteilen könnte, welche schrecklichen Auswirkungen die Armut tatsächlich mit sich bringt. Die letzten zwei Jahre ihres bisherigen kurzen Lebens entbehrt Nikita schon ihre Familie. Sie ist einer der Einzelfälle, die noch mit Glück im Unglück weiter unter unwürdigen Bedingungen leben dürfen und nicht wie ihre Angehörigen von der Aidserkrankung quälend

dahin gerafft wurden. Die Experten sind immer wieder darüber verwundert, dass aus diesem

unlösbaren Sumpf der Verdammnis verbreitenden Krankheit noch unbetroffene Überlebende

gerettet werden können.

Dieses Geschöpf wird ihnen nun nebst ihrer armseligen vorausgeschickten Habe präsentiert, mit der eindringlichen Bitte, doch vernünftig abzuwägen, ob sie sich nicht an Elternstatt, für das weitere Leben des Kindes verantwortlich fühlen wollen.

Wie kann das sein beharrt Gerda auf ihrem anfänglichen Unverständnis. Vielleicht liegt ein

Versehen unserer Behörde vor, die unsere Adoptionsunterlagen falsch zu geordnet haben, er-

widert Henry und fügt hinzu. Unabhängig von der Verursachung besteht der Fakt und pass

auf, die Organisation informiert uns, dass Freitag in vierzehn Tagen Nikita auf dem Frank-

furter Flughafen eintrifft. Die Flugtickets sind durch eine einmalige Spendenaktion bereits bezahlt wurden. Das ist ja wie die Pistole auf die Brust setzten, konstatiert die erregte Gerda.

Bleib mal ganz ruhig entgegnet Henry aus seiner Sesselecke. Sachlich betrachtet geht die Or-

ganistion von unserer selbstverständlichen Zustimmung aus und spielen wir den Fall doch

einfach mal durch, was wäre denn, wenn wir eine solche Möglichkeit niemals ausgeschlossen

hätten. Überleg doch Henry, ein schwarzes Kind in dieser Gesellschaft kontert Gerda heftig.

Bei allem vernünftigen Dialog den wir darüber führen können, hätte ich doch andauernd Angst vor der Aggressivität und der Benachteiligung, die in unserem Land anders Farbigen

ständig begegnen kann. Darüber mache ich mir weniger Sorgen fasst Henry seine Auffassung

zusammen. Du pickst dir jetzt Einzelfälle heraus, die statistisch gesehen nur eine Winzigkeit

dessen Betragen, was ansonsten an Krankheiten, Unfällen und so weiter die Bevölkerung be-

lastet. Schwieriger halte ich da schon, dass wir genau abwägen müssten, welche Probleme sich aus der Integration des Mädchens mitten hinein in die immer noch satte europäische

Zivilisation ergeben könnten. Aber ein Mädchen, was wir uns ja immer so sehr gewünscht

haben, erneuert Gerda ihre Bedenken, ist der Gefahr von Ausländerfeindlichkeit verbunden

mit der Möglichkeit extremer Gewaltanwendung noch weitaus stärker ausgesetzt. Du bleibst

eine kleine Schwarzmalerin frotzelt Henry ernsthaft herum. Was glaubst du eigentlich wie hoch mittlerweile der Ausländeranteil im Lande ist. Denk nur daran, wenn früh die Kehrge-

schwader in die ruhende Stadt ausrücken oder wer in der Coca Cola Bude im westlichen Gewerbegebiet an den Abfülllinien steht. Und so geht das weiter, unsere niveauvollen Theatererlebnisse werden überwiegend auch durch die östlichen Künstlerimporte getragen. Sicher hast du recht mein kluger, starker Schatz, aber als Frau bin ich wohl mit einer größeren Portion Ängstlichkeit geboren wurden, stimme dir demzufolge zu, dass auch ich die Zuver-sicht durch deine Argumente in mir aufsteigen fühle, erwidert die erleichterte Gerda. Wie um ihre Gelöstheit zu steigern setzt Henry seine Befürwortung fort und beginnt ihre eigene Position zu betrachten.

Bisher haben wir doch ein Leben der Verschwendung und des Egoismus geführt, uns nur um

uns selbst geschert, keine ernsthaften Probleme miteinander bestehen müssen. Das ist wie ein

Vorwurf an uns selbst, das geistige und materielle Potenzial weiter zu reichen an die, die es

ohne unsere Hilfe sonst nie erlangen könnten. Wie schön muss es sein die Schritte zur Musik,

den Erlebnissen in der Natur und der Auskostung phantasievoller Lektüre weiter zu vermit-teln, sie reifen und bis zu ihrer Blüte erstrahlen zu sehen.

Müde gähnend erwidert Gerda, ich finde es schön, dass du solche selbstlosen Ideen aufbringst

und es bestärkt mich darin, dass dieses zufällige Missverständnis, vielleicht zu unserer

reellen Chance werden kann.

Am nächsten Morgen sitzen beide wie benebelt am Frühstücksstück und können es kaum glauben, dass sie sich ernsthaft mit den konkreten Schritten, was alles bis zur Abholung vom

Flughafen zu erledigen wäre, beschäftigen. Meine liebe Gerda überlass mir mal, mich um die Formalitäten zu kümmern, dann kannst du darin schwelgen und ausschweifen, was alles in Nikitas Zimmer eingerichtet werden muss. Wie leicht ihm der Name des Kindes aus dem Mund kommt, registriert Gerda erfreut. Nie hätte sie gedacht, dass ihr Liebster eine solche Situation ernsthaft erwägen würde und dazu nicht einmal überredet werden musste, sondern selbst mit seiner überzeugenden Aktivität erreicht hat, sie für den Entschluss zu erwärmen. Einmal entschlossen ist sie nicht mehr zu bremsen und lässt ihre Vorfreude bei der Auswahl all dieser niedlichen Kindermöbel heraus. Henry kann am Abend nur noch gutmütig nickend, dem quicklebendigen Vortragen der auserwählten Katalogvarianten zu stimmen.

Endlich ist es soweit. Der Tag von Nikitas Ankunft begrüßt die zukünftigen Eltern mit

einem strahlenden Sonnenschein und selbst Henry vergisst heute seinen Wetterpessimismus.

Am Vorabend haben sie noch die letzten Schränkchen im so lange leer gestanden Zimmer

eingeräumt. Und auf allen Borden und Ablagemöglichkeiten die viel zu vielen Kuschel-

tiere zu kleinen Grüppchen zusammen gesetzt.

Sie sind so aufgeregt, dass sie den Hochbetrieb auf dem Flugplatzgelände nur wie neben-

bei wahrnehmen. Als ihre Flugankunft auf der automatischen Blättertafel an die erste Stelle

hoch rutscht, drängen sie sich durch die anderen ungeduldig Wartenden bis ganz vor an

die Glasfront, von der aus man den Ausstieg aus den gelandeten Maschinen direkt einsehen

kann. Es ist ein zitronengelber Flieger der behutsam auf den Flughafenkomplex zu rollt.

Wahrscheinlich eine afrikanische Fluggesellschaft denkt Henry und umfasst seine Gerda

dabei um die Taille, wobei ihre Erregtheit bis in seine Fingerspitzen zu spüren ist.

Der Strom der Reisenden scheint sich bereits fast vollständig aus dem Bauch der Maschine

ergossen zu haben, denn immer spärlicher werden die vereinzelten Nachzügler, als ein kleines

zierliches Mädchen in einem dünnen Mäntelchen an der Hand einer Stewardess unschlüssig

auf der Gangway stehen bleibt. Schnell streben die beiden dem Kind, für das sie sich nach einer so kurzen Bedenkzeit entschieden haben, entgegen und wissen als sie den riesigen, dunklen Kulleraugen begegnen, in denen eine Schwermütigkeit genauso wie ein ungläubiges Staunen glänzt, wir haben es richtig gemacht. Gerda und Henry wenden ihren Blick für einen Moment einander zu und lesen beide die Zustimmung darin, wir wollen alles dafür tun, dass dieses prächtige Mädchen eine gemeinsame, frohe Zukunft mit uns erlebt. Jeder nimmt das Kind an eine Hand und ohne zu zögern, schreitet die neue Dreierfront aus dem Flughafenge-bäude ins Frei, wo sich ein weites, blühendes Sonnenblumenfeld vor ihnen ausbreitet und die Sonnenstrahlen heiter und unbekümmert auf den unzähligen Blütenblättchen flackern.

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